Zur Topographie Südenglands: Der klassische Rock war provinziell geprägt
Die Songhelden von The Who fuhren gerne ins Seebad Brighton, Mike Oldfield beschwor den 426 Meter hohen Hergest Ridge, Pink Floyd packten die Battersea Power Station aufs Cover. Die Rockmusik der frühen Siebziger war mindestens so englisch wie Cornish Pasty.
In den 1970er Jahren – ich erinnere mich noch – gab es ein neues Phänomen in der deutschen Popmusik: den Regionalismus. In Süddeutschland zum Beispiel, wo ich herkomme, sang Joy Fleming 1973 vom „Mannemer Dreck“, ein Konstantin Wecker 1979 vom bayerischen „Haberfeldtreiben“ – und ein Wolle Kriwanek rannte der Stuttgarter „Stroßaboh“ hinterher. Wer solchen lokal verwurzelten Sangeskünstlern aufmerksam zuhörte, konnte lernen, dass es in Mannheim auch eine Neckarbrücke gibt und es in Stuttgart um zehn Uhr abends schon „Nacht“ ist. Und wer nicht nur Badisch und Schwäbisch verstand, sondern auch – sagen wir – Günzlhoferisch, der erfuhr von der Biermösl Blosn, dass das Ufer des Wörthsees von Zäunen verstellt wird und die Schwanthalerhöhe ein Betongebirge ziert.
Diese lokalen Bezüge in der Musik waren eine ganz neue Erfahrung. Bis dahin nämlich hatten wir vor allem klassischen Rock gehört – der war auf Englisch, zeitlos und allgemein gültig. Den verstand man in Bayern so gut wie in Russland oder sonst wo. In den Texten ging es um Mädchen, Partys oder Einsamkeit, um Fantasy-Welten und Ufo-Beschwörungen – aber um nichts Lokales oder Insiderisches. So dachte ich jedenfalls. Erst viel später ist mir klar geworden, dass die Welten der Rockmusik gar nicht so fantastisch und allgemein waren, wie ich glaubte. Die Landschaft des Rock sieht nämlich Südengland zum Verwechseln ähnlich. 90 Prozent der Bands des klassischen Rock kamen ja aus London: von Deep Purple bis King Crimson, von den Stones bis Uriah Heep und Yes … Wenn sie von Taxis sangen, waren das Londoner Taxis. Wenn sie von Wiesen sangen, war das der Hyde Park oder der Regent’s Park oder eine Idylle vor den Toren der Stadt. Die wilden Berge waren höchstens weiche Hügel. Das weite Meer war allenfalls die Irische See oder der graue Ärmelkanal.
Für unsereins klang „Kentish Town“ oder „Dun Ringill“ ebenso mythisch-fern wie „Avalon“ oder „Middle-Earth“. Für die Londoner Bands und ihr nächstes Publikum aber waren die Songtexte von lokaler Bedeutung. Eine Richtung der englischen Rockmusik hieß „Canterbury-Szene“ – nach der Stadt in Kent südöstlich von London. Eine der Canterbury-Bands hieß Hatfield And The North – eine Anspielung auf die Autobahn A1, die aus London herausführt. Auf ihr nämlich reisten die Bands gerne in die englische Landschaft, um deren grüne Wiesen zu besingen. Pink Floyds „Grantchester Meadows“ zum Beispiel liegen in Cambridgeshire.
Ein Album wie Uriah Heeps Salisbury war englische Provinz pur. Der Song „Bird Of Prey“ entstand in Richmond (North Yorkshire), „The Park“ in Stanville Village (Middlesex), „Time To Live“ in Chiswick (Südwest-London) und „Lady In Black“ in Bradford (West Yorkshire). Das Cover mit dem Panzer deuteten wir damals als Friedensappell ans südliche Afrika: Salisbury (Rhodesien), heute: Harare (Zimbabwe), war wegen kriegerischer Auseinandersetzungen oft in den Nachrichten. Erst viel später erfuhr man, dass sich der Panzer doch tatsächlich auf das idyllische englische Salisbury (Grafschaft Wiltshire) bezog: Dort gab es nämlich einen Truppenübungsplatz. Auch andere Bands verrieten übrigens militärische Stützpunkte, etwa die RAF-Basen Fylingdale (Jethro Tull) und Mildenhall (Pink Floyd).
Bei Jethro Tull waren die Heimatbezüge klarer. Mal ging es in den Texten um keltische Mythen, mal kam eine Plattenhülle als gefakete englische Kleinstadtzeitung. Auch Ian Anderson fuhr gerne raus aus der Stadt, vorzugsweise offenbar nach Norden, Richtung Scotch Corner oder zur Isle Of Skye oder zum legendären Seebad Blackpool, dessen Sehenswürdigkeiten er ausführlich feierte („Up The ’Pool“ und „Big Dipper“). Öfter aber hing er in der Hauptstadt fest, ging in seinen Songs den Leicester Square runter oder den „Strand“ entlang, fuhr durch London Town, durch die Fulham Road oder die Marylebone Road, die Baker Street, die Blandford Street, kam nach „darkest Chelsea“ und durch den „Kensington haze“, besuchte Kentish Town oder passierte Gerrards Cross. Schon das Album Aqualung, bekannt für seine Schimpftiraden gegen die anglikanische Kirche, war wie ein vertonter Stadtplan. Da geht es von Hampstead Village nach Highgate und vom Piccadilly Circus zurück zum Hampstead Fair – das Tourismusbüro freute sich. Sogar gastronomische Tipps werden mitgeliefert, auch wenn es nur Restaurantketten sind: Wimpy Bar und Cousin Jack’s.
„This train terminates at Epping.“ Spätestens wenn man als London-Tourist in der „Tube“ diese Durchsage hört, ahnt man, dass auch der Genesis-Song „The Battle Of Epping Forest“ nicht etwa in Mittelerde spielt. Die Wegangaben sind im Song sogar sehr exakt: Von Wandsworth geht es übers East End zur Forest Road Richtung Epping Forest. Außerdem empfiehlt das Album Selling England By The Pound noch englische Spezialitäten wie Rinderrippen und Staffordshire-Keramik. Andere Genesis-Alben nehmen uns mit ins schottische Perth, zum Fluss Tyne, nach Bognor Regis in West Sussex, nach Harlow New Town im Nordosten Londons und zu den königlichen Gärten im Stadtteil Kew. Wir erfahren außerdem, dass zu Weihnachten die Queen im Fernsehen kommt und „Old King Cole“ ein altes Kinderlied ist. Very British, indeed.