Ziegen der Zerstreuung
Illustration: Ralf Wolff-Boenisch
Ich gehöre zu einer glücklichen Generation: Mit Wählscheibentelefon und Brockhaus aufgewachsen, heute alle Freunde und das Wissen der ganzen Welt stets an- und abrufbar in der Hosentasche. Glücklich insofern, als dass ich einen Referenzrahmen habe für die echten und die vermeintlichen Vor- und Nachteile der digitalen Errungenschaften des 21. Jahrhunderts. Und ihrer Einflüsse aufs Leben. So eine Referenz haben meine Kinder nicht. Sie wachsen mit WhatsApp und WLAN auf und kennen die anachronistisch-analoge Welt ohne Emojis nur aus den Erzählungen von Mama und Papa, wenn die mal wieder sentimentale Sätze mit „Weißt Du noch …“ beginnen. Sie wissen nicht, wie beruhigend es ist, einfach mal nicht ans Telefon zu gehen.
Nicht zurückrufen zu müssen in einer längst vergangenen Welt ohne Telefon-Displays, die alle „Anrufe in Abwesenheit“ auflisten und einen zeitnahen Rückruf quasi unumgänglich machen. Nicht Knecht der zwei blauen Häkchen im Fenster verschickter Nachrichten zu sein, die zeigen, dass man gelesen hat und so eine Erwartungshaltung des baldigen Beantwortens aufbauen. Rückzug vom Kommunikationsstress gibt es kaum. Man kann schließlich nicht jedes Wochenende zum Schweigen ins Kloster ziehen. Oder einen „Goat Yoga“-Kurs buchen, um gemeinsam mit Bergziegen im Heu zu entschleunigen. Früher bettete man sich dafür einfach aufs Sofa und ließ eine Schallplatte abspielen. Von vorne bis hinten in der richtigen Reihenfolge der Songs ohne Einflüsse von Shuffle-Modi oder künstlich intelligenter DJ-Algorithmen. Oder man freute sich auf einen schönen Film am Abend in einer Welt, da es keine Mediatheken geschweige denn Bilddatenstreaming gab und nichts zu jeder Zeit beliebig abrufbar war.
Nicht falsch verstehen: Ich bin weder frühsenil noch ein Verklärer des Vergangenen. Höchstens ein Retroromantiker im bisweilen hyperaktiven Hier und Jetzt. Ich genieße die Vorteile von Smartphone, Spotify und Streaming. Ich bin aber auch, dank analoger Vergangenheit, sensibilisiert für die feinen Grenzen zwischen Sinnhaftigkeit und technisch Machbarem. Mir erschließt sich zum Beispiel nicht, warum Netflix derzeit eine neue Funktion testet, die es erlaubt, Filme und Serien in 1,5-facher Geschwindigkeit anzuschauen. Wer will eine 45-minütige Folge von Stranger Things in 30 Minuten anschauen oder alle Staffeln von House of Cards in 55 statt in 73 Stunden, und warum? Um beim Entspannen Zeit zu sparen? Vielleicht zieht Spotify bald nach und dampft „Stairway To Heaven“ von acht auf fünf Minuten zusammen?
Zum Glück gibt es bereits eine Gegenbewegung zum digitalen Fast-Food-Forward-Trend. Bei Youtube machen sich Videos breit, die all das sind, was das Internet sonst nicht ist: beruhigend, auf seltsame Art analog. Unter dem Stichwort „Oddly Satisfying“ werden dort Video-Schnipsel zu einer visuellen Meditation zusammengeschnitten. Man schaut zu, wie ein Stück Seife mit einem Sparschäler zerkleinert wird, wie Autoreifen in einer Garage gestapelt oder wie Torten mit Zuckerguss verziert werden. Offenbar mag das Gehirn solche rhythmischen, symmetrischen, oft mit den Händen ausgeführten Tätigkeiten. Eine fast analoge Panikattacken-Prophylaxe, geboren in der digitalen Welt. So, und jetzt möge man mich entschuldigen. Ich möchte noch ein Video anschauen, in dem jemand Wassertropfen an ein herabhängendes Haar tupft.
PS: Unnützes Wissen, Teil 10: Yoga entstand im vollkommen analogen Indien und beschreibt eine Philosophie der Vereinigung von Körper und Seele. Neben den klassischen Spielarten wie dem körperbetonten Hatha-Yoga gibt es mittlerweile eine Vielzahl eher verrückter Yoga-Varianten: Man kann sich auf dem Surfbrett verbiegen, auf Bierflaschen, bei sengender Hitze im Hochofenseminarraum. Man kann es nackt machen oder bei der „Doga“-Variante seinen Hund kraulen. Im US-Bundesstaat Oregon wurde jetzt die neueste Yoga-Spielart erfunden. „Goat Yogis“ absolvieren ihre Übungen, während Zwergziegen um sie herum und auf ihnen drauf tollen, ihnen ins Ohr blöken und an der Yoga-Matte kauen. Ziegen der Zerstreuung.