Yugen
Das Wort „yūgen“ kommt aus der japanischen Ästhetik. Es bedeutet so viel wie: geheimnisvoll, tiefgründig, erhebend. Vor 20 Jahren wurde in Milano die beispiellose Avantrock-Band Yugen gegründet.
Francesco Zago fühlte sich schon immer hin- und hergerissen. Von klein auf hatte er Led-Zeppelin-Songs gespielt – dann aber lernte er klassische Gitarre. Er studierte bei Renato Rivolta, einem Veteranen der Avantrock-Band Stormy Six – der aber empfahl ihm die Musik von Ligeti, Xenakis oder Stockhausen. 1997 spielte Zago bei den Genesis-Epigonen von The Night Watch (heute: The Watch) – aber er schrieb dann doch lieber akustische Kammermusik. – Also was denn nun: progressiver Rock oder zeitgenössische Komposition? Eine interessante Lösung fand sich im Jahr 2004, als ein gewisser Marcello Marinone das Label AltrOck startete. „Damals schrieb ich für Kammerensembles und hatte keine Rock-Pläne“, sagt Zago. „Aber Marcello hörte sich meine Sachen an und hatte die Idee, man könne versuchen, die Kammermusik-Richtung und meine zeitgenössische Musiksprache mit etwas zu verschmelzen, das Rock-orientierter wäre.“ So entstand Yugen.
Die Band begann als italienisch-schweizerisches Sextett aus Rock- und Jazzsolisten, zu denen dann noch klassische Musiker und Musikerinnen hinzustießen. Das Klangspektrum reicht also von der Rockband über ein Sortiment von Blasinstrumenten (Saxofone, Klarinetten, Fagott) bis zu Violine, Mandoline, Cembalo und Orchesterperkussion. Manchmal ist es, als wären es drei, vier Bands übereinander. Und manchmal komponiert Zago auch so. Mit Frank Zappa teilt er nicht nur die Initialen.
Schon 2010 erscheint Yugens drittes Album, Iridule (AltrOck 013) – ihr bis dahin bestes.
Nicht weniger als 19 Musiker und Musikerinnen sind beteiligt, auch ein kleines „Who’s who“ aus bekannten Avantrock- und RIO-Bands wie Thinking Plague, 5uu’s, Ahvak, Présent, French TV, Stormy Six, Spaltklang oder Univers Zéro. Fünf größere Stücke (4 bis 9 Minuten lang) bilden das Hauptgerüst des Albums. Die Stücke sind rasend schnell und rasend virtuos. Komponierte oder teils improvisierte Abschnitte gehen flüssig ineinander über – manche sind nur ein paar Sekunden lang. Rockriffs, Bläsersätze, Marimbaläufe, Kammermusik, Klavierparts, Schlagzeugbeats kombinieren sich ständig neu in einem polytonalen Vexierbild. Zago legt zackige Stakkato-Motive gegen nervöse Metal-Rhythmen, hektische Jazzfiguren gegen bizarre Synthesizer-Töne. Zwischen diesen Wahnsinnsstücken gibt es zur Erholung ein paar kurze Kammerpop-Songs (mit der Thinking-Plague-Sängerin Elaine Di Falco).
Ein Jahr später treten Yugen beim RIO-Festival in Carmaux auf. Es ist der Ernstfall: Lässt sich die hochkomplexe, hochvirtuose Yugen-Musik auch live meistern? Zago arrangiert zehn Stücke aus den ersten Alben neu – für ein Bühnenseptett aus Gitarre, Bass, Schlagzeug, zwei Keyboardern, einem Holzbläser und einem Vibrafon- und Marimbaspieler. Um die Angst vor den dichten Partituren zu verlieren und um souverän rocken zu können, hätte es 100 Stunden Proben gebraucht, meint Zago. „Aber für dieses Festival hatten wir insgesamt nur zehn oder zwölf Stunden!“ Der dennoch sensationelle Livemitschnitt erscheint unter dem Titel Mirrors (AltrOck 030).
In den Hauptstücken („Brachilogia“, „Catacresi“, „Overmurmur“, „Becchime“, „Corale Mellurgico“) überlagern sich die Klangfarben, Motive, Tempi und Tonalitäten in rasanten Verzahnungen. Zago scheut nicht das Bizarre, Schrille oder Atonale. Es ist, als wolle er Gentle Giant und King Crimson mit Strawinsky und Schönberg multiplizieren. Höhepunkte sind auch die Henry-Cow-Nummer „Industry“ im Yugen-Sound, der Song „Ice“ als Klarinetten-Feature oder der epische Prog-Instrumental „Cloudscape“ mit improvisierten Soli.
Das jüngste Album der Band erscheint 2016: Death By Water (AltrOck 053), nun sogar mit 24 Akteuren. Zu hören gibt es diesmal auch Theremin, Euphonium, Tubax, Chapman Stick, Cimbalom und ein Taiko-Trommelensemble.
Das erste Stück, „Cinically Correct“ (7:48), treibt das Yugen-Konzept auf die Spitze: Die kurzen Abschnitte mit ihren dicht verschachtelten Einzelstimmen jagen einander nun ohne Verschnaufpause. Ein Kritiker schreibt: „Die klangliche Raserei schlägt dir ins Gesicht, wobei jedes Instrument in seinem eigenen Universum existiert und es dennoch schafft, sich mit den anderen irgendwie zu koordinieren – in einer bizarren Synkopierung in frenetischen Taktarten.“ Nicht ganz so verrückt dreht sich das vielstimmige Getriebe im fast zehnminütigen „As-A-Matter-Of-Breath“. Die kürzeren Stücke auf dem Album könnten ausgedünnte Remixe dieser beiden sein. Dafür sind die Gesangsnummern diesmal besonders kunstvoll – oder besonders schrill.