Yes – Relayer
An diesem Album schieden sich schon im Voraus die Geister.
Rick Wakeman, der Star-Keyboarder der Band, war mit der aktuellen Entwicklung von Yes unzufrieden – sie erschien ihm zu ehrgeizig, zu wenig songorientiert. Als Jon Anderson, der Sänger und Kopf von Yes, sogar noch wildere Ideen für die Zukunft entwickelte, stieg Wakeman aus – das war im Mai 1974. Die Band begann die Arbeit am neuen Album also als Quartett – und suchte nebenher einen neuen Keyboarder. Ihr Favorit war Vangelis, der mit all seinem Equipment anreiste und volle zwei Wochen mit der Band probte. Die Engländer fühlten sich von seinem Können und seinem Auftreten „schier geblendet“ (so Steve Howe). Doch es gab menschliche, bürokratische, logistische Hürden – Vangelis reiste wieder ab. (Einige Jahre später sollte Jon Anderson mit ihm das Projekt Jon & Vangelis starten.)
Auch bei Keith Emerson fragte man an – doch er war mit Lake und Palmer noch glücklich. Emersons ehemalige Mitstreiter bei The Nice (Lee Jackson und Brian Davison) arbeiteten inzwischen mit einem anderen grandiosen Keyboarder zusammen, dem Franko-Schweizer Patrick Moraz. Auch Moraz wurde kontaktiert, kam nach England, setzte sich an Vangelis’ Keyboards, gab ein paar Kostproben und wurde im August 1974 als neues Yes-Mitglied aufgenommen. (Sein Trio mit Jackson und Davison war damit erledigt.) Obwohl die Kernband schon einiges fürs neue Album erarbeitet hatte, konnte der „schrille“ Moraz frische Ideen und Sounds einbringen. Seine Neigung zu Jazz, Fusion und Latin traf sich gut mit Andersons „Free-Form-Ambitionen“ – Relayer wurde das abenteuerlichste und herausforderndste aller Yes-Alben. (Rick Wakeman übrigens fand die Platte zu jazzig und fühlte sich in seiner Entscheidung, die Band zu verlassen, bestätigt.)
Moraz fühlte sich wohl bei Yes und war sogar bereit, wie die anderen Mitglieder Vegetarier zu werden. In sechs Wochen lernte er die Keyboardparts der früheren Alben und machte daraufhin mehrere große Tourneen mit der Band. Er galt als die überraschende „Geheimwaffe“ im Konzert. Als Arrangeur, Dirigent und Keyboarder auf Steve Howes erstem Soloalbum vollbrachte Moraz „Wunderdinge“ (Howe). Als Yes 1976 für die nächste Plattenaufnahme nach Montreux gingen, fühlte sich der Franko-Schweizer erst recht ganz zu Hause. Vielleicht entwickelte er dadurch zu viel Selbstbewusstsein – die anderen fanden seine „jazzigen“ Tendenzen plötzlich überzogen. Moraz wurde in Montreux von der Band überraschend gefeuert und fiel in eine tiefe Krise.
Aufnahme: 1974
Veröffentlichung: November 1974
Label: Atlantic
Produktion: Yes & Eddy Offord
Titel
A
- The Gates Of Delirium 21:55
B
- Sound Chaser 9:25
- To Be Over 9:08
Musiker
Jon Anderson – Gesang
Steve Howe – Gitarren
Chris Squire – Bassgitarre
Patrick Moraz – Keyboards
Alan White – Schlagzeug
- Der Monster-Track des Albums heißt „The Gates Of Delirium“ – er ist inspiriert von Tolstois Roman Krieg und Frieden. Anderson nennt das mehrteilige 22-Minuten-Stück einen „war song“. Moraz vergleicht es lieber mit einer Sinfonie.
- Die Aufnahmen finden in Chris Squires Haus außerhalb von London statt. Der Toningenieur und Co-Produzent Eddy Offord hantiert an einer mobilen 24-Spur-Maschine – und ist meistens zugedröhnt.
- Anderson hat „The Gates Of Delirium“ komplett im Kopf und spielt es den anderen portionsweise auf dem Klavier vor. Die Band nimmt das Stück Abschnitt für Abschnitt auf – das dauert Wochen. Am Ende werden die Teilstücke aneinandergeschnitten.
- Die Mitte der „Gates Of Delirium“ bildet die fast fünfminütige lärmende „Kriegsszene“ (rein instrumental). Anderson und White schlagen dabei auch auf alte Autoteile ein, die sie vom Schrottplatz geholt haben. „Wir bauten ein Gestell auf und hängten all diese Dinger dran.“
- „Gates Of Delirium“ endet mit dem gesungenen Balladenteil „Soon“ – er wird auch als Single ausgekoppelt. Der Sänger Trevor Horn hört das Stück 1975 im Yes-Konzert: „Ich hätte weinen können. Es hat mich so bewegt.“
- Um den innovativen Charakter des Albums zu betonen, sucht Steve Howe nach anderen Gitarrensounds. Er spielt vor allem seine 1955er Telecaster. In „Soon“ hört man auch die Stringmaster Steel Guitar, in „To Be Over“ eine Sitar-Gitarre.
- Das „Jazz-Stück“ des Albums heißt „Sound Chaser“ – Yes haben es nie live gespielt. Es wird gelegentlich mit der Musik von amerikanischen Fusionbands wie Return To Forever verglichen.
- Die Einleitung zu „Sound Chaser“ entsteht aus einer spontanen Talentprobe von Patrick Moraz am E-Piano (nur ein wenig überarbeitet). Das später folgende Solo am Moog-Synthesizer ist sein bestes Solo auf dem Album.
- „To Be Over“ basiert auf einer Melodie des Gitarristen Steve Howe. Das Synthesizer-Solo wird von Moraz sorgfältig auskomponiert. Als die Band beschließt, den Song in einer anderen Tonart zu spielen, transponiert Moraz geduldig seinen Part.
- Der Grafiker Roger Dean gestaltet nicht nur das Albumcover, sondern auch die sensationellen Bühnenbilder und Lasershows für die Tournee 1974/75. „So etwas hatte die Welt noch nicht gesehen“ (Steve Howe). Das Originalgemälde des Covers wird heute für 6 Millionen Dollar gehandelt.