Wolfgang Rihm
Einen der bedeutendsten Komponisten unserer Zeit verlor die Musikwelt letztes Jahr mit dem Tod von Wolfgang Rihm, der immer als legitimer Nachfolger von Stockhausen oder Nono angesehen wurde, gleichwohl er ganz eigene Wege beschritt.
Wolfgang Rihm, geboren am 13. März 1952 in Karlsruhe, hinterlässt ein musikalisches Vermächtnis, das gleichermaßen Kenner und neugierige Entdecker fesselt. Seine Fähigkeit, die oft komplexen Strukturen der zeitgenössischen Musik zugänglich zu machen, war herausragend und prägend, wenn auch stets kritisch beäugt.
Wolfgang Rihm war vor allem zu Beginn seiner Karriere alles andere als unumstritten. Während einige Kritiker seine Musik als zu wenig abstrakt und intellektuell empfanden, erkannten andere bereits das enorme Potenzial und die Tiefe seiner Kompositionen, ähnlich wie bei den „Jungen Wilden“ in der Malerei der 1970er Jahre. Trotz oder auch gerade wegen der Kontroversen gelang es Rihm schnell, sich einen Namen zu machen. Seine ersten Erfolge, darunter das Orchesterwerk Morphonie (1972) und die Oper Jakob Lenz (1978), etablierten ihn als eine der führenden Stimmen der zeitgenössischen Musik.
Diese Werke, die sowohl Provokation als auch Bewunderung hervorriefen, legten den Grundstein für eine imposante Karriere, die Rihm schließlich zu einem der bedeutendsten Komponisten seiner Zeit machte. Neben seiner kompositorischen Begabung war Rihm aber auch ein Kommunikationstalent, sowohl in eigener Sache als auch in Sachen Neuer Musik allgemein. Immer zugewandt, immer freundlich, fern von Arroganz oder Allüren – der Autor dieser Zeilen hatte das Vergnügen, an zwei Gesprächen mit ihm teilzunehmen – gelang es Rihm, Menschen für seine Angelegenheiten zu begeistern.
Die hörbare Avantgarde: Komplexität mit emotionaler Tiefe
Rihms Musik zeichnet sich durch ihre Fähigkeit aus, intensive emotionale Reaktionen zu wecken, ohne an intellektueller Schärfe zu verlieren; nicht umsonst nannte er sein Drittes Streichquartett von 1976 Im Innnersten. Gleißende Streicherflächen, scharfe und harte Blechattacken, gerissene Pizzikati zeigen den eruptiv-emotionalen Rihm, während Klänge absoluter Stille und lange einstimmige Melodiebögen für den introvertierten Künstler Rihm stehen. Kein Werktitel kennzeichnet vermutlich Rihms Klangcharakteristik besser als seine Komposition Jagden und Formen.
Gerade für den audiophilen Hörer bietet sein Klangkosmos ein einzigartiges Erlebnis, das Intellekt und Emotionalität in einem großen musikalischen Resonanzraum miteinander verbindet und jede Musikanlage anspruchsvoll herausfordern kann. Ein Highlight für Vinyl-Enthusiasten ist der Jeton-Direktschnitt Ensemble 13 spielt Wolfgang Rihm, der Kompositionen für Kammerorchester in außergewöhnlicher Klangqualität präsentiert und schon lange als Geheimtipp kursiert. Seine Werke laden dazu ein, immer neue Schichten zu entdecken und eine tiefere Ebene des Hörens zu erleben. Ein weiteres klangliches Highlight auf Vinyl, das diese Schichtendimension klanglich zum Tragen bringt, ist die Komposition für Cello solo Über die Linie, erschienen bei Plaist, dem Label des Jazz-Schlagzeugers Christian Lillinger, meisterhaft interpretiert von Benedict Klöckner.
Eine dynamische Klangreise: Spannung bis zum letzten Ton
Rihms Musik stellt hohe Anforderungen an Hörer und Wiedergabeequipment. Die Dynamik seiner Werke, die zwischen leisen, intimen Passagen und kraftvollen Klangwellen oszilliert, fordert die Wiedergabetechnik bis an ihre Grenzen. Eine wirklich präzise abgestimmte Anlage kann die vielfältigen Nuancen seiner Kompositionen in ihrer ganzen Tiefe wiedergeben und auch weniger eingefleischte Avantgardisten überzeugen.
Für Liebhaber groß orchestrierter Werke bietet Rihms Spätwerk Requiem-Strophen unter der Leitung von Mariss Jansons, erschienen bei BR-Klassik, eine beeindruckende Erfahrung. Hier erlebt man die volle emotionale und auch spirituelle Wucht seiner Musik, die sich in einem atemberaubenden Klangspektrum entfaltet. Ebenso beeindruckend ist die Sinfonie Nähe Fern – eingespielt vom Luzerner Sinfonieorchester und veröffentlicht bei Harmonia Mundi –, die mit subtilen Klangfarben und kraftvollen Ausbrüchen besticht.
Klangwelten, die Bilder entstehen lassen
Rihms Musik besitzt eine narrative Qualität, die den Hörer in eine andere Welt entführt. Diese komplexen, vielschichtigen Klangwelten bieten bei jedem akustischen Eintauchen neue Entdeckungen und reißen vor allem mit ihren abrupten Brüchen und disparaten Klangdimensionen den Hörer aus dem Alltag gängiger Hörerfahrungen. Für aufgeschlossene Hörer bleibt sie eine unerschöpfliche Quelle der Faszination und eine Einladung, die Grenzen der eigenen Anlage und des eigenen Verständnisses immer wieder neu auszuloten. Einen umfassenden Überblick über Rihms Schaffen ermöglicht die zwischen 2007 und 2012 bei Hänssler erschienene Rihm-Edition in sechs CDs, die sich vor allem den Orchesterwerken verschrieben hat. Wenn Sie aber einen unmittelbaren Einstieg suchen, dann streamen Sie das frühe „Skandalwerk“ Morphonie in der Aufnahme mit dem SWR Sinfonieorchester unter Ernest Bour – und begeben Sie sich damit gute vierzig Minuten lang in eine akustische Achterbahnfahrt, nach der Ihnen jeder Alien-Film wie eine Soap Opera vorkommt. Dank der einschlägigen Streamingdienste haben wir die Möglichkeit, fast auf das gesamte diskografische Werk Rihms zurückzugreifen; ein Großteil der Veröffentlichungen auf CD oder LP steht inzwischen nicht mehr zur Verfügung.
Rihms künstlerisches Erbe zeigt die Kraft der Musik, die Avantgarde mit dem Traditionellen zu verbinden, das Komplexe mit dem Zugänglichen und das Emotionale mit dem Intellektuellen. Sein Tod markiert das Ende einer Ära, doch seine Musik wird weiterleben – nicht zuletzt in den Werken seiner bereits heute bedeutenden Schüler Rebecca Saunders und Jörg Widmann.