Winfried Dulisch schlendert durch die Grachten von Amsterdam
Die Stadt hat einen guten schlechten Ruf. Amsterdam bietet kulturell aber viel mehr als nur Rotlichtviertel und Coffeshops
Die 780 000 Einwohner fahren insgesamt 600 000 Fahrräder. 2500 Hausboote schwimmen durch die Grachten. In den Museen von Amsterdam hängen 22 Gemälde von Rembrandt und 206 van Goghs. Außerdem zählt die Statistik 1215 Kneipen und Bars, eine davon ist das Hard Rock Cafe. Es ist zwar nicht so groß wie andere Filialen dieser globalen Kaffeehaus-Kette. Aber dafür kann sich die Auswahl der Gitarren, die hier in den Glasvitrinen hängen, sehen lassen. Von George Harrison bis zu den Sex Pistols reicht die Liste der ehemaligen Benutzer dieser Exponate. Ausgerechnet das wertvollste Stück ist eine unscheinbar aussehende Akustik-Klampfe: Jimi Hendrix hatte auf ihr den Dylan-Song „All Along The Watchtower“ eingespielt, der Experience-Drummer Mitch Mitchell überließ sie dem Amsterdamer Hard Rock Cafe. Zu den kostbaren Musikinstrumenten, welche die größte Stadt der Niederlande beherbergt, gehören auch die 42 historischen Kirchenorgeln. Außerdem verzeichnet die offizielle Amsterdam-Statistik vier Drehorgeln – Irrtum, allein schon in der Werkstatt der Firma G. Perlee Draaiorgels sind mindestens ein Dutzend Drehorgeln der unterschiedlichsten Bauart ständig zu bewundern.
Total abgedrehte Orgeln
Leon van Leeuwen, der das Unternehmen in fünfter Generation betreibt, kann bestätigen: „Vor allem aus Deutschland kommen oft Besucher und erwarten von einem Drehorgel-Museum nostalgische Kuriositäten.“ Aber das Draaiorgelmuseum in der Westerstraat ist ein „working museum“, hier wird gearbeitet. Die Drehorgel- Tradition ist sehr lebendig – nicht nur in Amsterdam. Der Draaiorgel-Restaurator holt aus seinem Musikarchiv eine 16 Meter lange Lochkartenrolle mit der Aufschrift „Beatles-Medley“. Das Abarbeiten dieses Vorläufers unserer heutigen Digital-Speichermedien dauert ungefähr vier Minuten. „Aber es geht auch schneller. Oder langsamer. Der Spieler bestimmt mit seiner Drehkurbel das Tempo – hier, probieren Sie mal selbst.“ Spätestens beim Refrain „She Loves You, Yeah, Yeah, Yeah“ tut dem ungeübten Draaiorgel-User der Arm weh. Sag also niemals wieder „Musikautomat“ zu einer Drehorgel! Aber die Zeiten haben sich geändert. Heute schleppen viele Draaiorgel-Schausteller nicht mehr ein schweres Paket von Lochkartenstreifen mit sich herum. Jener Mechanismus, der einst die Lochkarten abtastete, wurde inzwischen vom Computer verdrängt. Also verwenden sie bei ihren Vorführungen auf Nostalgie-Jahrmärkten einen USB-Stick, auf dem die altbekannten Drehorgel- Hits gespeichert sind: Walzer, Polkas, Operettenmelodien, ein Hauch von Hollywood und Broadway. Und natürlich die immer wieder gern gehörten „Tulpen aus Amsterdam“. Zunehmend auch Abba und Reggae-Rhythmen. – Wie bitte? – Leon van Leeuwen legt eine seiner liebsten Lochkartenrollen ein, dreht die Kurbel, und es erklingt „Stir It Up, Little Darling“, der Mitschunkel-Song von Bob Marley. „Die Lochkarte habe ich selbst gestanzt.“ Diese Kunst beherrschen heute weltweit nur noch wenige Drehorgel-Spieler. Das war noch nicht der Höhepunkt einer Führung durch sein Working Museum. In einer hinteren Ecke von seinem Draaiorgel-Werkplaats zeigt Leon van Leeuwen dem Besucher ein kubanisches Monstrum, das sich sogar gegen den Straßenlärm in Havanna duchsetzen kann. „In Kuba spielen diese riesigen Drehorgeln eine Mischung aus Rumba, Cha-Cha-Cha, Marango, Salsa und Reggae. Drum herum springen und tanzen Trommler und Percussionisten. So ein kubanisches Drehorgel-Ensemble übertönt jede Militärkapelle.“
Software aus Amsterdam
Ausgerechnet Willem Breuker, der in seiner Geburtsund Heimatstadt Amsterdam 2010 verstorbene Saxophonist und Freejazz-Bandleader, erkannte die viel zu wenig genutzten Ausdrucksmöglichkeiten der Drehorgel. 1967 schrieb der Avantgardist ein Musikstück – oder muss es heißen: eine Software? – für „drie draaiorgels“. Mit seinem Drehorgel-Trio hatte Willem Breuker endgültig die Teamfähigkeit und künstlerische Daseinsberechtigung dieses Instruments nachgewiesen. Schräg gegenüber von G. Perlee Draaiorgels, Westerstraat 119, befindet sich in der Nr. 106 eine Sammlung von Klavieren mit Selbstspielapparatur – das Pianola-Museum; die Ausstellung ist leider nur sonntags geöffnet. Dafür ist hier die Besucherschlange kürzer als bei Vincent van Gogh oder vor dem Rijksmuseum, wo Rembrandts „Nachtwache“ und andere Meisterwerke des 17. Jahrhunderts das „gouden eeuw“ (Goldene Zeitalter) der Niederlande dokumentieren.
Getragene Rolle
Eelco Douma vom Ambassade Hotel an der Herengracht gibt seinen Gästen einen anderen Tipp: „Sie müssen unbedingt das Handtaschen-Museum besuchen!“ Ein paar Gehminuten weiter auf derselben Seite der Herengracht (dieser Weg ist schon ein lohnendes Ziel) findet der Besucher im „Tassen Museum Hendrikje“ mehr als 4000 Kultgegenstände. Von der Ziegenleder-Kreation aus dem 16. Jahrhundert bis zur Handtasche, die eine tragende – eigentlich: getragene – Rolle spielte in Sex And The City. Dabei brauchte der Ambassade-Manager den Gast nur in die Bibliothek seines Hauses zu führen. „Wir sind die erste Adresse für durchreisende Schriftsteller aus aller Welt. Die bringen immer ein signiertes Exemplar ihres neuesten Buches mit.“ Das Fünfsternehotel liegt mitten in der pulsierenden City, aber entlang der Grachten ist es herrlich ruhig. Eelco Douma garantiert außerdem: „Die Rolling Stones würden bei uns niemals absteigen, obwohl sie von hier aus nur wenige Minuten Fußweg benötigen würden zum Paradiso.“ In dieser ehemaligen Kirche nutzten Mick Jagger und seine Band 1995 ideale Arbeitsbedingungen für einen Unplugged- Gig: Der Track „Street Fighting Man“ für das Album Stripped wurde im Paradiso aufgenommen.
Joint-Session
Ebenfalls eine Hippie-Kultstätte ist der Melkweg („Milchstraße“). Hier hatte schon Grateful Dead die arbeitsfreien Tage während einer Europa-Tournee sinnvoll genutzt: Weitgehend unbehelligt von Zuschauer- Interesse, veranstaltete die Band aus San Francisco eine Jam-Session und ließ zwischen Bühne und Publikum den Joint hin und her kreisen. Amsterdam-Kenner wissen nur zu gut: Wenn das Paradiso- oder Melkweg- Plakat eine unbekannte Band ankündigt, wird entweder eine unbekannte Band auf der Bühne stehen – oder ein Promi, der sich hier für eine Tour warm spielen will.
Derartige Überraschungsauftritte sind nebenan im Concertgebouw nicht zu erwarten. Das Konzertgebäude mit seiner herrlich plüschigen Jugendstil-Innenarchitektur feiert 2013 seinen 125. Geburtstag und gilt als weltweit führende Aufführungsstätte für Orchesterwerke von Gustav Mahler. Liebhaber opulenter Sinfonik machen den Zeitpunkt ihres Amsterdam-Besuchs davon abhängig, ob die – von Königin Beatrix inzwischen zum Koninklijk Concertgebouworkest geadelte – Hauskapelle hier gerade zu hören ist. Denn schließlich reist kein Mensch nach Amsterdam, um zu kiffen oder um nach Einbruch der Dunkelheit in der Rosse Buurt („Rotlichtviertel“) einen Schaufensterbummel zu machen.