Kai Seemann, Speakers Corner – Pionier des Analog-Revivals
Seit 1993 führt Kai Seemann die Schallplatte durch ihr dunkelstes Zeitalter. Dass der Vinyl-Boom heute bis zu den Major-Labels und in Elektro-Märkte spürbar ist, verdanken wir nicht zuletzt Speakers Corner.
Ein Schreibfehler. Ganz offensichtlich. Merkwürdig nur, dass entgegen der deutschen Manie, Apostrophe beidhändig zu verstreuen (jüngst gesehenes Beispiel an einem Ladengeschäft: Haushalt’s-Waren) im Namen des Schallplattenvertriebs Speakers Corner gar keiner auftaucht. Fällt das noch unter Meinungsfreiheit, aus der berühmten Londoner Speakers’ Corner, der Ecke der Redner, eine Lautsprecher-Ecke zu machen?
In der Tat hat Kai Seemann während seiner Zeit in der Bundeswehr zwar die Redefreiheit schätzen gelernt, und zugleich erkannt, dass es ihm nicht liegt, Befehle zu empfangen, seinen ersten eigenen HiFi-Laden aber dennoch schlicht Speakers Corner getauft, weil man dort gute Lautsprecher bekommen konnte. Als Bausatz versteht sich, denn Do It Yourself war im HiFi des Jahres 1982 noch weit verbreitet. Zwei Jahre später fiel Kai Seemann einer damals außergewöhnlich erfolgreichen Sekte in die Hände und führte als Linn-/ Naim-Händler ein ordentliches HiFi-Studio. Der Name Speakers Corner aber blieb, auch als Seemann 1993, durch den anhaltenden Erfolg des Linn Sondek LP12 optimistisch gestimmt, auf die geschäftlich halsbrecherische Idee kam, unter eigenem Label Album-Klassiker für Audiophile originalgetreu auf Vinyl wiederaufzulegen. Bei seinen Kompagnons sorgte die Höhe der Investitionen für Lizenzen und Fertigung aus nachvollziehbaren Gründen für Stirnrunzeln. Schließlich gab es CDs.
„Die haben mich schon ernsthaft gefragt, ob ich glaube, dass das Geld wieder zurückkommt“, erinnert sich Kai Seemann. Aber die ersten Decca-Reissues, darunter etwa Peer Gynt oder das Forellen-Quintett, verkauften sich. So gut, dass bald neues Material gefunden werden musste, ein kleiner Markt analoger Enthusiasten gierte nach den schweren Speakers-Corner-Pressungen. Von Beginn an setzte Seemann bedingungslos auf Qualität, legte sich selbst ein „Reinheitsgebot“ auf: Jeder Speakers-Corner-LP liegt das originale Masterband oder in Ausnahmefällen eine Kopie der ersten Generation zugrunde. Und die analoge Quelle muss in exzellentem Zustand sein, es gibt keine Nachbearbeitung. Nach seinen Erfahrungen aus über zwanzig Jahren trifft das häufiger auf Produktionen aus den 50er- und 60er-Jahren zu, als auf spätere. Ein weltweites Netz von Spähern aus (ehemaligen) Produzenten, Sammlern, Liebhabern und Geheimnisträgern unterstützt Seemann bei der Titelfindung und dem Aufspüren von Originalaufnahmen. Es steckt nicht nur das Herzblut des geschäftsführenden Gesellschafters in jeder Speakers-Corner-Platte, die luftdicht versiegelt in Margen zu tausend Stück das Presswerk der Pallas-Group im niedersächsischen Diepholz verlässt.
Als hartnäckig und pedantisch bezeichnet sich der 1958 in Glückstadt geborene passionierte Regatta-Segler Kai Seemann selbst. Eigenschaften, die, gepaart mit seiner Leidenschaft für Musik, unverzichtbar sind in zähen Verhandlungen um Copyrights und detektivischer Suche nach verschollenen Perlen. Auch dass ihn seine mittlerweile symbolträchtige 33 Jahre währende HiFi-Karriere zurück zum Ursprung, zur Optimierung des Quellmaterials führte, scheint retrospektiv folgerichtig. Der Erfolg des Labels, ersichtlich am riesigen Repertoire, das audiophile Liebhaber des Blues und allem, was auf ihm fußt ebenso anspricht wie Klassik-Hörer, gibt ihm ohnehin recht. Auch wenn jener sich in den letzten Jahren als zunehmend ambivalent herausstellt. Genau dieser Erfolg nämlich, hat die Majors Universal, Warner und Sony aufmerken lassen. Inzwischen vermarkten sie ihren Backkatalog selbst auf eigenen Sub-Labels, anstatt die Rechte zu verkaufen. Müßig zu erwähnen, dass lupenreine Qualität dabei nicht den Stellenwert innehat wie bei Speakers Corner.
Kai Seemann blickt dennoch zuversichtlich in die Zukunft, behauptet sogar, dass jetzt, wo „die audiophilen Schlachtrösser“ abgearbeitet seien, der musikalisch spannende Teil begänne. Sein Musikgeschmack ist breit, mit einer besonderen Leidenschaft für gute Jazz-Aufnahmen, und er wirkt neugierig. Man glaubt ihm die Vorfreude auf noch zu feiernde Entdeckungen, auch wenn die Chancen immer schlechter stehen. Solange sein Netzwerk funktioniert, solange irgendwo auf der Welt ein analoges Original hinter einem Studiomischpult verstaubt und solange die Neumann-Schneidmaschinen der Pallas noch neue Lackfolien schneiden können, solange wird Kai Seemann kein digitales Master anrühren, noch von CDs oder gar MP3 kopieren. Seine Produkte sind bis zum Delay im Schneideraum durch und durch analog und originalgetreu bis ins Cover und Label. Im Namen aller Vinyl-Fans ist ihm zu wünschen, dass neue Titel nie ausgehen. Falls die Artefakte-Dichte doch einmal geringer werden sollte, wartet 2027 das 45-jährige Firmen-Jubiläum – wäre das nicht der ideale Zeitpunkt für die erste Speakers-Corner-Single?
Leise oder laut?
laut
Analog oder Digital?
analog (digital gibt’s nur im Auto)
Röhre oder Transistor?
Transistor
Schallplatte oder Download?
Schallplatte
Waldlauf oder Fitnessstudio?
beides
Trend oder Tradition?
Trend, es sei denn Tradition hat mehr Vorteile
Tee oder Kaffee?
Tee
Salat oder Steak?
kein Rindfleisch!
Wein oder Bier?
Mineralwasser
Berge oder Meer?
Meer, Meer, Meer
Buch oder Bildschirm?
beides
Jazzclub oder Opernhaus?
beides
Bach oder Beatles?
beides
Wagner oder Wacken?
eher Wagner, aber beides nicht so wirklich
Standby oder Stecker ziehen?
Stecker ziehen, wenn Standby nicht eindeutige Vorteile hat