Canton – Von der Dorfschule zum computersimulierten Lautsprecher
Ein Unternehmen zu gründen und sich auf einem bereits gut erschlossenen Markt zu etablieren, erfordert neben Mut und Know-how vor allem Weitblick und viel Fantasie, wozu mitunter auch Improvisationstalent und die Offenheit für unkonventionelle Lösungen gehören.
Als Günther Seitz 1972 den Bürgermeister der Taunusgemeinde Weilrod darum bat, ihm die leer stehende Dorfschule des Ortsteils Niederlauken als Sitz für die am 17. Oktober gegründete Firma Canton zu überlassen, ahnte er allerdings nicht, dass diese sich in den folgenden Jahren zum größten Lautsprecherhersteller Deutschlands entwickeln würde.
Einige Monate zuvor hatten drei Mitarbeiter der Firmen Heco und Braun bei einem Treffen auf der Hannover Messe beschlossen, gemeinsam ein eigenes Unternehmen zu gründen: Nach dem Verkauf von Heco an die Rank-Arena-Gruppe waren der Fertigungsleiter Günther Seitz und der Entwickler Wolfgang Seikritt, der bis Mitte der 1960er-Jahre bei Braun gearbeitet hatte, unzufrieden mit der neuen Geschäftsleitung und taten sich mit dem bei Braun für Marketing und Vertrieb zuständigen Otfried Sandig zusammen, um die Firma Canton aus der Taufe zu heben. Komplettiert wurde das Gründungsteam durch Hubert Milbers, der als Geschäftsführer fungierte.
Mit einer Belegschaft von 35 Mitarbeitern, von denen acht von Heco stammten, nahm man am 1. Januar 1973 offiziell die Produktion auf. Entwickelt wurden die Lautsprecher zunächst, analog zu ihrem künftigen Einsatzort, im Wohnzimmer. Gleich mit der ersten Regallautsprecherkollektion der LE-Serie sollte das junge Unternehmen, dessen erklärter Anspruch es war, in jeder Klasse die besten Lautsprecher zu entwickeln, bei Fachpresse und HiFi-Interessierten auf große positive Resonanz stoßen. Die erste Box war eine holzfarbene LE250, mit der Canton ausloten wollte, wie klein eine HiFi-Box sein kann. Als zu klein für die schneller als erwartet wachsende Firma stellten sich bald das Schulgebäude und Lehrerhaus heraus, die anfangs zur Miete genutzt und später gekauft wurden. Zunächst behalf man sich damit, alle weiteren leer stehenden Gebäude des Dorfs zu mieten und die fertigen Lautsprecherboxen in einer wasserdichten Scheune zu lagern, bis schließlich neben der ehemaligen Schule ein neues Fabrikgebäude errichtet wurde.
Der rasche Erfolg der ersten Lautsprecherserie befeuerte auch die Ambitionen und führte zu dem Entschluss, als nächstes einen Receiver mit modernster Elektronik zu entwickeln. Der aufwendig in England produzierte, 1977 präsentierte Gamma 800R wurde allerdings zum teuren Lehrstück für die jungen Firmengründer: Angesichts zahlreicher Defekte an den Geräten sah man sich letztlich gezwungen, die Produktion schon bald darauf wieder einzustellen. Dieser technischen und wirtschaftlichen Schlappe sollten sich weitere Erfolge und innovative Entwicklungen anschließen: 1979 brachte Canton als erster Hersteller ein Subwoofer-Satellitensystem auf den Markt, 1980 folgten die aktiven Drei-Wege-Standlautsprecher der Ergo-Baureihe mit Hybridverstärkern in Dünnfilmtechnik und Gegenkopplung im Bassbereich, die wiederum im damals tonangebenden Fachmagazin für Begeisterungsstürme sorgten. Drei Jahre später dehnte man das Sortiment mit den Lautsprechern der Pullman-Serie auf Car-HiFi aus. 1986 wurden die aktiven Ergo-Lautsprecher von den Drei- und Vier-Wege-Boxen der CA-Reihe abgelöst, die an allen Membranen mit elektronischer Regelungstechnik ausgestattet waren und als erste europäische Lautsprecher über Hochtöner mit Metallkalotten verfügten. Außerdem ergänzte man das Aktivlautsprecherprogramm durch den Vorverstärker EC-P1.
1995 präsentierte Canton den ersten für den privaten HiFi-Bereich konzipierten digital entzerrten Lautsprecher Digital 1, der von der European Imaging and Sound Association, einem Verband 50 europäischer Fachzeitschriften, mit dem EISA HiFi Award in der Kategorie „Innovation“ ausgezeichnet wurde. Drei Jahre später brachte die Firma ihr erstes Surround-Lautsprechersystem nach THX-Spezifikationen auf den Markt. In der Folge sollten sich die kompakten Systeme der Movie-Serie zum Verkaufshit im Heimkinobereich entwickeln und wesentlich zum Unternehmensumsatz beitragen. 2007 stellte man dann als Alternative dazu mit der Digital-Movie-Serie eine eigene Virtual-Surround-Lösung vor, über die mit einem Subwoofer und einem Surround-Center bzw. zwei Satelliten ein Surround-Sound simuliert werden kann, indem die einzelnen Kanäle der Mehrkanalaufnahme frequenzspezifisch auf zwei Kanäle verteilt werden.
Eine weitere Innovation stellte der 2005 präsentierte Funklautsprecher CD Wireless dar, bei dem es sich um den ersten in Serie produzierten hochwertigen HiFi-Funklautsprecher überhaupt handelte. Im Jahr darauf wurde die per Fernbedienung steuerbare digitale Dockingstation DSS 303 herausgebracht, die nicht nur die Wiedergabe von auf I-Pod und I-Phone gespeicherter Musik ermöglichte, sondern auch als Ladestation diente und daneben über einen UKW-Tuner und einen digitalen Wecker verfügte. 2011 stellte man das drahtlose digitale Musiksystem Your World vor, das die beliebige Kombination einer Dockingstation für I-Pod und I-Phone mit einem einzelnen Aktivlautsprecher oder einem Lautsprecherpaar und einem Subwoofer ermöglicht, bei Bedarf um weitere Lautsprecher erweitert und über einen Adapter auch mit dem Computer oder anderen Klangquellen verbunden werden kann. Eine Alternative dazu stellt die mit Bluetooth-Schnittstelle, Cinch- und optischem Digitaleingang ausgestattete Musicbox M dar, die Dockingstation, RDS-Tuner, Verstärker und Lautsprecher mit Virtual-Surround-Modus in einem Gerät vereint. Daneben wird mit der Musicbox Air 3 ein Streaminglautsprecher angeboten, der wahlweise in ein WLAN-Netz eingebunden oder im Direct-Mode betrieben werden kann.
Heute beschäftigt Canton rund 200 Mitarbeiter und verfügt neben dem Werk in Niederlauken über eine weitere Fertigungsstätte in Tschechien sowie eine Tochterfirma in Minneapolis im US-Staat Minnesota. Das Unternehmen ist nicht nur mit einem Anteil von über 25 Prozent Marktführer in Deutschland, sondern mittlerweile auch drittgrößter Lautsprecherhersteller Europas. Der Exportanteil am Umsatz liegt bei 30–35 Prozent. Laut Günther Seitz war das erklärte Ziel von Canton, in allen Klassen und für jeden Geschmack die besten Produkte zum bestmöglichen Preis anzubieten, von Anfang an mit dem Anspruch verbunden, nicht auf Standardware zurückzugreifen, sondern die Geräte bis ins kleinste Detail selbst zu entwickeln. Alle Bestandteile der Chassis, von Schwingspulen und Magneten bis hin zu Konustreibern und Frequenzweichen stammen heute aus eigener Fertigung oder werden im Auftrag von Spezialfirmen mit von Canton eigens entwickelten Werkzeugen gefertigt. Bei den hochwertigeren Linien erfolgt auch die Montage der Gehäuse in der eigenen Werkstatt im Taunus. Die Entwicklung findet seit den 1990er-Jahren allerdings nicht mehr wie in der Anfangszeit mittels in Handarbeit hergestellter Modelle, sondern in großem Umfang per Computersimulation mit speziellen Softwaretools statt. So werden zur mechanischen Optimierung der Treiber Magnetschwingungs-Systemprogramme verwendet und Fehler der Chassis, die früher mit komplizierten Frequenzweichen ausgeglichen werden mussten, bereits vorab im Computer eliminiert. An den aufgrund der Simulationen konstruierten Prototypen wird dann wiederum mittels Nachanalyse-Systemen überprüft, ob das zuvor errechnete dem tatsächlichen Verhalten entspricht. Für die Messungen bis hinab zu 150 Hertz steht seit 1989 ein schalltoter Raum zur Verfügung, tiefere Frequenzen werden über einen Nahfeld-Fernfeld-Vergleich gemessen. Die abschließende Klangprobe findet in einem Hörraum statt, in dem asymmetrische Wände und für den Bassbereich ein Helmholtz-Resonator für möglichst geringe Resonanzen sorgen, der aber ansonsten einem durchschnittlichen Wohnraum entspricht.
Zu den auf Software-Simulationen beruhenden Innovationen gehören die erstmals 1993 angewandte SC-Technologie, mittels der die Basswiedergabe pegelgenau um über eine Oktave nach unten erweitert werden konnte, und die DC-Technologie (Displacement Control), die eine unkontrollierte Auslenkung des Basslautsprechers durch die Unterdrückung subsonischer Frequenzen verhindert. Die auf der Grundlage der SC-Technologie entwickelte RC-Technologie (Room Compensation) ermöglicht darüber hinaus eine Anpassung des Lautsprecherklangs an die individuellen akustischen Eigenschaften des Hörraums. Ebenso gelang es auf diese Weise, die Schwingungseigenschaften der vorderen Aufhängung der Tief- und Mitteltonmembranen durch eine spezielle Formgebung zu optimieren: Die sogenannte Wave-Sicke entwickelt aufgrund ihrer mehrfachen Wölbung bei hohen Frequenzen weniger Partialschwingungen und erlaubt einen erheblich größeren Hub, sodass deutlich weniger klangverfälschende Resonanzen auftreten. Mittels einer Frontplatte mit computeroptimierter Schallführung, der sogenannten Transmission Front Plate, konnte zudem nicht nur das Rundstrahlverhalten der Hochtöner, sondern auch ihr Wirkungsgrad im Übernahmebereich zum Tiefmitteltöner deutlich verbessert werden, was zu geringeren Verzerrungen und damit einem „saubereren“ Gesamtfrequenzgang führt.
Die erste mit DC-Technologie ausgestattete, in hohem Maße mittels Analyse- und Simulationsverfahren entwickelte Lautsprecherbox war die Karat Reference 2 DC, die 2002 als neues Flaggschiff und Demonstrationsobjekt der damaligen technischen Möglichkeiten präsentiert wurde. Drei Jahre später folgte als neues Spitzenmodell die Vento Reference 1 DC, die abermals für Lobeshymnen in der Fachpresse sorgte. Ihr 2009 vorgestellter Nachfolger, die Reference 1.2 DS, führt als Trägerin der modernsten von Canton entwickelten Technologien die neu begründete High-End-Linie Reference an, die sich neben ihrer besonderen Frequenzweichentechnologie unter anderem durch die Verwendung von Aluminiumoxyd-Keramik-Kalotten mit Transmission Front Plates im Hochtonsystem und ihre schiffsbugartig geschwungenen, aus Mehrschichtlaminat gefertigten Gehäuse auszeichnet, die innen zur optimalen Versteifung aus mehreren Kammern aufgebaut sind.
Die Produktpalette von Canton umfasst gegenwärtig über 500 verschiedene Modelle, da sollte für jeden Kunden genau die richtige Box dabei sein. Abgesehen von der Reference-Linie, die auch Surround-Systeme und einen Wandlautsprecher umfasst, gehören dazu die ebenfalls durch Mehrschichtlaminatgehäuse in Bug-Form gekennzeichnete Vento-Serie und die über Aluminium-Mangan-Hochtöner verfügenden, im herkömmlichen Kastendesign ausgeführten Serien Chrono und Chrono SL. Bei der Serie Chrono SLS kommen demgegenüber wie in der Vento Keramikhochtonsysteme und eine spezielle, akustisch optimierte Gehäusegeometrie mit abgeflachten Ecken zum Einsatz. Die Modelle der noch immer im Programm vertretenen Ergo-Serie, die mit ihren abgerundeten Gehäusekanten und der Gitterabdeckung zum Design-Klassiker des Canton-Programms wurde, verfügen demgegenüber ebenfalls über Alu-Mangan-Hochtöner. Zu den erfolgreichsten europäischen Lautsprecherlinien zählt die GLE-Serie, die sich durch „Soft Dome“-Hochtonsysteme mit in Transmission Front Plates eingebetteten Aluminium-Spulenträgern und besonders schmal wirkende Gehäuse auszeichnet. Sehr markant und äußerst vielfältig im Design sind die schlanken, säulenartigen Modelle der CD-Serie mit Gehäusen aus Aluminium oder MDF in insgesamt vier verschiedenen Formen. Wie bei Chrono und Ergo werden für die Hochtöner dieser Linie Membranen aus Alu-Mangan verwendet; eine Besonderheit stellen die vier übereinander angeordneten, anstelle eines großen Tieftöners eingesetzten Woofer dar. Für welches Modell man sich auch entscheidet: „Wo Canton draufsteht, da ist gute Qualität drin.“
Daneben umfasst das Angebot eine Vielzahl an Architekturlautsprecher-Modelllinien. Dazu zählen die in die Wand bzw. die Decke einbaubaren Serien InWall und InCeiling, die On-Wall-Lautsprecher der Plus-Serie, die Atelier-Serie, deren Modelle wahlweise an die Wand gehängt oder darin integriert werden können, und die für den Outdoor-Bereich konzipierten Boxen der Pro-Serie. Eine Sonderstellung nimmt der Kompaktlautsprecher AM 5 ein, der wahlweise aufgestellt oder an die Wand gehängt werden kann: Mit seinem linearen Frequenzgang und der dadurch bedingten besonders verfärbungsarmen Klangwiedergabe ist er einerseits als Nahfeldmonitor für den Studio-Bereich und Präsentationslautsprecher konzipiert, andererseits auch als HiFi-, TV- und Computer-Lautsprecher einsetzbar. Kann man sich angesichts solcher Vielfalt dem einzelnen Produkt auch ausgiebig widmen, gibt es so etwas wie den spannendsten Canton-Lautsprecher? Marketingleiter Oliver Hennel lacht: „Wir machen Holzkisten, was soll daran spannend sein?“ Pures Understatement, denn auch er fiebert dem Moment entgegen, in dem aus einer dieser „Holzkisten“ der erste Ton kommt. Das findet er aufregend.
Als stille Kapitalgeberin war bei der Gründung 1972 die in Stuttgart ansässige Wega Radio GmbH mit ins Boot geholt worden. Als diese 1975 von Sony übernommen wurde und der neue Eigentümer damit begann, im Wega-Werk in Fellbach Canton mit einer eigenen Lautsprecherkollektion Konkurrenz zu machen, kündigte man die Beteiligung auf. Heute ist Günther Seitz als letztes übrig gebliebenes Mitglied des ursprünglichen Viererteams alleiniger Inhaber der Firma und wird mittlerweile von seinem Sohn Achim in der Geschäftsleitung unterstützt. Nachdem der erste Canton-Geschäftsführer Hubert Milbers schon bald nach der Firmengründung nach Brasilien ausgewandert war, um dort eine eigene Lautsprechermarke aufzubauen, hatte 1982 auch Entwicklungsleiter Wolfgang Seikritt aufgrund fachlicher Differenzen Canton den Rücken gekehrt und seine eigene Lautsprecherfirma AXIOM gegründet, die 1984 in der ELAC aufging. Der ebenso wie Seikritt mittlerweile verstorbene frühere Vertriebs- und Marketing-Chef Otfried Sandig hatte sich nach seiner Pensionierung 1999 aus dem Unternehmen zurückgezogen.
Bei der Suche nach einem passenden und ansprechenden Namen für ihre neue Marke waren die Firmengründer schließlich auf die Idee gekommen, die erste Silbe des lateinischen Verbs cantare („singen“) mit dem deutschen Wort Ton zu verbinden. Nach der Aufnahme der Produktion Anfang 1973 sollte allerdings noch ein Jahr vergehen, bis man angesichts des sich einstellenden Erfolges den Entschluss fasste, den bisher verwendeten provisorischen Firmenschriftzug durch ein adäquates Logo zu ersetzen. Der in Frankfurt ansässige Schweizer Grafikdesigner Christof Gassner wurde damit beauftragt, ein Firmensignet zu entwickeln, das nicht nur möglichst gut zu den Produkten passen, sondern auch das im Namen enthaltene Thema Musik zum Ausdruck bringen sollte. Das Ergebnis war ein auf dem von Herb Lubalin kreierten Typo Avant Garde beruhender Schriftzug, bei dem die Stärke der Lettern entsprechend einem Crescendo von links nach rechts zunimmt. Die im Zentrum des Worts zwischen den Buchstaben N und T angedeutete Teilung steht dabei für das Prinzip der Stereophonie. Laut Gassner drückt das Logo zudem die unterschiedlichen Tonhöhen der Musik aus. In den folgenden knapp 20 Jahren sollte Gassner noch zahlreiche weitere, teils preisgekrönte Arbeiten für den Lautsprecherhersteller entwerfen.
Aus dem Buch „Who is Who in High Fidelity“. Weitere Informationen finden Sie hier.