Von Mäusen und Menschen
Am Samstag saß ich mit meiner Frau auf dem Balkon. Ein milder Abend. Vor uns standen zwei frisch gemixte Sommerdrinks.
Das Rezept – Ramazotti, Sekt, Tonicwater, Thymian – war über Instagram zu uns gekommen. Die Eiswürfel klingelten im Glas. Wir sprachen darüber, ob man Thymian im Alkohol eigentlich lecker finden muss, nur weil eine vierstellige Zahl uns unbekannter Menschen das Rezept mit einem „Gefällt mir“ bedacht hatte. Plötzlich wurde die sanfte Stimmung gestört. Auf dem Spielplatz gegenüber ertönte laute Musik. Dazu Lachen, Brüllen, Kreischen. Bestgelauntes Jungvolk war mit Boombox und Playlist angerückt. Deutsch-Hip-Hop wallte aus dem Dunkel der Bäume und Klettergerüste zu uns herauf. So laut, als würde die Box auf unserem Balkontisch zwischen den Thymian-Drinks stehen. Gegen Rap und Hip-Hop habe ich grundsätzlich nichts. Als Kind der Achtziger bin ich mit Run-D.M.C. und den Beastie Boys groß geworden. Dies hier aber waren Songs von fragwürdigem Duktus und Versmaß. Lieder mit Beats aus dem Baumarkt und Texten, die mit überreichlicher Platzierung von „Bitch“ und „Bro“ eine irgendwie billige Getto-Credibility zu kreieren suchten. Nun, ich bin nicht die Zielgruppe. Neulich las ich, dass „Last Christmas“ nicht mehr der am längsten platzierte Song in den deutschen Musikcharts ist. Wham! wurde überholt von Apache 207 und „Roller“. Okay, dachte ich. Kenn’ ich nicht vom Namen. Bei Youtube dann festgestellt: Kenn’ ich gar nicht.
Dazu passt jetzt dies: Männliche Mäuse geben während der Balz und Paarung komplexe Laute von sich. Sie singen, so wie die Wale es im Wasser tun und die Vögel in den Bäumen. Um für sich zu werben, das fanden jetzt Wissenschaftler vom Konrad-Lorenz-Institut für Vergleichende Verhaltensforschung der Veterinärmedizinischen Universität Wien heraus, stimmen Mäuse erstaunlich komplexe Gesänge an. Der große Unterschied zum Bitch-werbenden Gesang von Apache 207 und seinen Getto-Bros: Der Gesang der Mäuse ist für Menschen nicht zu hören, da er im Ultraschallspektrum angestimmt wird. Der geringe Abstand zwischen ihren Ohren bewirkt, dass Mäuse nur Geräuschquellen mit niedrigen Wellenlängen im Ultraschallbereich genau lokalisieren können. Breitschädelige Elefanten hingegen artikulieren sich gern im Infraschallbereich über tiefe, langwellige Frequenzen, die über weite Distanzen transportiert werden.
Ach, ich hätte nichts dagegen, am Abend auf dem Balkon dem Gesang einer Feldmaus zu lauschen. Ich stelle mir das wie das Zirpen einer Zikade, eventuell sogar so harmonisch wie das Lied einer Nachtigall vor. Wer weiß, welch verborgenes Talent im Unterholz des Spielplatzes gegenüber schlummert? Vermutlich leider keins mehr. Selbst die unmusikalischste Maus wird das Weite gesucht haben, als am Wochenende Apache 207 und Kollegen dröhnten. Denn diese Beats aus einer hoffnungslos basslastigen Boombox dürften neben allen Balkon-Anrainern sowohl die Infraschall-Elefanten im rund zehn Kilometer entfernten Tierpark als auch die Ultraschall-Mäuse im Spielplatzgebüsch gehört haben, unabhängig vom Abstand zwischen den Ohren.
PS: Unnützes Wissen, Teil 30
Dass Mäuse singen können, ist natürlich spätestens seit dem 28. August 1929 bekannt. Damals kam der Film Mickey’s Follies in die Kinos, zu Deutsch: Mickys große Liebe. Darin singt der Hauptdarsteller, eine später weltbekannte Maus, den heutigen Cartoonfilm-Songklassiker „Minnies Yoo-Hoo“, geschrieben von Walt Disneys Hauskomponisten Carl Stalling. So besingt man seine Bitch, Herr Apache 207: „I’m the guy they call Little Mickey Mouse. Got a sweetie down in the chicken house. Neither fat nor skinny, she’s the horse’s whinny. She’s my little Minnie Mouse.“