Joachim Gerhard Collection Vitesse – Die besten Boxen schreibt das Leben
Wahre Meisterwerke benötigen handwerkliches Geschick und Erfahrung, so viel ist mal klar. Manchmal hilft aber auch der Zufall. Im Fall von Joachim Gerhards „Vitesse“ kam der in Form eines unerwarteten Päckchens ins Spiel …
Einen Lautsprecher zu bauen ist keine Kernphysik. Wir sprechen schließlich über Kisten mit Löchern, in die Chassis geschraubt werden. Frequenzweiche? Pah, fürs Erste klappt’s auch ohne. Zwischen diesem Grundgerüst – selbst heutige Entwickler-Koryphäen dürften ganz ähnlich begonnen haben – und highendiger Meisterschaft liegen freilich Welten. Einen Schallwandler nicht nur zusammenzuklöppeln, sondern ausreifen zu lassen, ihm Lebendigkeit und Charakter einzuhauchen – das ist eine Kunst. Und die beherrschen nur wenige so vollendet wie Joachim Gerhard.
Auftakt: Masterclass
Umtriebigen FIDELITY-Lesern muss ich nicht erklären, wer das ist. Falls Sie zu den zwei Prozent gehören, die Nachhilfe benötigen, hier eine Kurzfassung: Gerhard konstruiert seit fünf Jahrzehnten Elektronik und Schallwandler. Seine Konzepte, so außergewöhnlich und extrem sie bisweilen auch sein mögen, eint eine Gemeinsamkeit: Sie sind kompromisslos emotional, fokussiert, musikalisch und beseelt. Bei so einer Attributsammlung ist es nur logisch, dass viele seiner Schöpfungen legendären Status erlangten. Etliche dieser Überflieger tragen das Logo seiner zweiten Firmengründung Audio Physic, die er 1985 aus der Taufe gehoben hatte und ab 1991 auch hauptberuflich betreute. Sein erstes Unternehmen war übrigens eine Galerie, die moderne Kunst mit HiFi verknüpfte. Einige seiner Konzepte werden in Brilon bis heute in der x-ten Generation gepflegt. Gerhard selbst verließ das Unternehmen 2004 und widmete sich seiner neuen Marke Sonics. Nach Unstimmigkeiten mit einem Investor vertreibt er seine Kreationen seit 2012 unter dem Namen „Süßkind Audio“.
Parallel dazu hat er neuerdings ein ambitioniertes Nebenprojekt. Auf die Idee zur „Joachim Gerhard Collection“ (JGC) brachte ihn die Möbelmanufaktur Rose-Handwerk aus Meschede. Der Name und das Prädikat „Handmade in Sauerland“ sind Programm: Gerhard entwirft keine revolutionären Lautsprecherkonzepte, sondern greift auf seine Lieblingsrezepte aus fünf Jahrzehnten zurück, die er für die JGC neu interpretiert. Hauptdarsteller sind nicht allein die Boxen, sondern auch die Verarbeitung der stabilen HDF-Gehäuse und ihre faszinierenden Furniere. Rose steuert eine Auswahl erlesener Hölzer bei, die als dickwandige Frontflächen Verwendung finden und eine faszinierende, weil naturbelassene Oberfläche haben. Musizierende Kunstwerke und Möbelstücke, wenn man so möchte, die sich perfekt ins Wohnambiente integrieren lassen. Am besten gefällt mir der Ansatz, die Gehäuse in Weiß zu halten. Dieser Trick lässt selbst die größeren Modelle optisch verschwinden – abgesehen von ihren edlen Frontflächen, versteht sich. Der Nadelausschlag auf dem vielzitierten „WAF“-Barometer (WAF = Women Acceptance Factor) dürfte hier nahe bei 100 Prozent liegen.
Szenenwechsel: Der Briefträger
Vor einigen Wochen erhielt Gerhard Post, die er gar nicht bestellt hatte. So weit nichts Ungewöhnliches. Wenn man regelmäßig mit Chassis-Produzenten kommuniziert und Großeinkäufe tätigt, wird man mit Neuentwicklungen bemustert. Nach dem Öffnen des Kartons lächelte ihn ein Pärchen Tweeter an. „Ein ziemlich kostspieliger Hochtöner, den ich sofort erkannte“, erinnert er sich beim Besuch in der Redaktion. Es handelte sich um die neueste Generation eines legendären Dynaudio-Treibers, der mittlerweile von Scan-Speak gefertigt wird und in seinem ersten Leben als D-21 bekannt war. Genau dieses Urmodell zierte Gerhards ersten kommerziell erfolgreichen Lautsprecher: Audio Physics „Tempo“. Nach kurzem Sinnieren beschloss er, die Box im Rahmen der JGC von Grund auf neu zu entwickeln. Freilich benötigte er eine Namensalternative, da die Tempo – mittlerweile zum veritablen Standlautsprecher gewachsen – weiterhin von Audio Physic gefertigt wird. Die Lösung fand er im französischen „Vitesse“, das für „Geschwindigkeit“ oder – wir ersparen uns den imaginären Trommelwirbel – für „Tempo“ steht. Den leisen Vorwurf eines (Eigen-)Plagiats können wir schon im Keim ersticken: Mit ihrem beinahe 35 Jahre alten Vorbild hat die Kompakte abgesehen vom Tweeter nur formale Ähnlichkeiten.
Die Vitesse ist ein bildschöner Zweiwege-Lautsprecher mit besagter 21-Millimeter-Kalotte und einem ebenfalls von Scan-Speak stammenden Tiefmitteltöner von 15 Zentimeter Durchmesser. Die mit vier Zentimeter äußerst dickwandige Front besteht aus naturbelassenem Kirschholz und fällt zu den Kanten so ab, dass ihre Diffraktion (Reflexionen an den Gehäusekanten) minimal ist. Man kann sie mit lasergraviertem Firmenlogo bestellen oder, wie unser Muster, ganz naturbelassen in den Hörraum stellen. Am Rücken des Gehäuses sitzt ein großer Radiator – eine Passivmembran –, der das knorrig-straffe Bassvermögen der Vitesse um eine gute Oktave herunterzieht.
Die zierliche Box klingt derart breitbandig, vollständig und voluminös, dass ich beim Test in meinem 36 Quadratmeter messenden Hörraum gelegentlich die vielsagenden Blicke meiner Nachbarschaft vorm geistigen Auge hatte. Bestimmt genossen auch sie den fokussierten, impulsiven und bis in höchste Pegelregionen unerschütterlichen Tonfall der JGC. Um den Lautsprecher zu stabilisieren betreibt Gerhard ungewohnten Aufwand bei der Innendämmung: Eine der beiden HDF-Seitenwände mit einer dicken Schicht aus Hartschaum beruhigt, darauf liegt eine Hartfaserplatte, die wiederum mit Aluminium-Butyl versiegelt ist, das in Anfassqualität und Verhalten einer Bitumenmatte ähnelt. Darüber kommt noch eine Platte aus Basotect – ein Dämmstoff, den man aus der Raumakustik kennt. Das verbleibende Volumen der Vitesse dürfte sich in Kubikzentimetern bemessen lassen. Es komme gerade noch genug Luft durch, um den Radiator anzutreiben, wie Gerhard erklärte.
Wie die Standlautsprecher seiner Collection besitzt die Vitesse eine abgesetzte Bodenplatte, an deren Stirnseite ein Alu-Fußausleger sitzt. Die Schraubstifte sind mit bodenschonenden Messingkappen versehen und lassen sich millimetergenau justieren. Falls gewünscht, kann man sie freilich durch Spikes (oder Ähnliches) ersetzen. Diese Konstruktion brachte für mich allerdings ein kleines Problem: Da es noch keinen passenden Ständer gibt – er soll noch folgen –, parkte ich die Vitesse zunächst einfach auf dem Fußboden und schraubte ihre Füße so weit heraus, dass mich die Treiber am Hörplatz genau anblickten. Schnell wurde mir klar, dass dieser Kompromiss auch die Dauerlösung ist. Die etwa kniehohe Box sah im Raum nicht nur toll aus, sie musizierte entgegen meinen Erwartungen auch noch vorzüglich.
Joachim Gerhard wäre nicht Joachim Gerhard, wenn er es einfach bei einer soliden Konstruktion beließe. Seine aufgeweckte Kompakte besitzt zwei Parameter, mit denen sich ihr Klang dosiert abschmecken lässt. Der erste springt direkt ins Auge: Am Terminal sitzt ein Schalter, der das Ausschwingverhalten des Basstreibers von „Fast“ auf „Slow“ umschaltet. Die Namen sollen die Wirkung treffend beschreiben. Wir können allerdings nur nacherzählen, da unser Muster – ein Prototyp – diese Funktion noch nicht besaß, die Frequenzweiche war fix in der „Fast“-Stellung verankert.
Die zweite elektrische Besonderheit liegt in den Anschlusspaaren des Bi-Amping und -Wiring-Terminals. Direkt dahinter verbaute Gerhard eine sogenannte Phasen-Quadraturweiche, die das Signal der beiden Eingänge um 90 Grad gegeneinander verdreht. Das ist so wenig, dass man keinen Zeitversatz zwischen den Treibern wahrnehmen kann, aber immerhin doch so viel, dass es den Charakter der Box in den oberen Lagen beeinflusst. Man kann das Bi-Wiring-Adapter- oder Lautsprecherkabel am Tweeter-Eingang einfach in der Polung vertauschen. Die üblichen Phasenungereimtheiten, die eine matschig-diffusen Abbildung zur Folge haben, entfallen hier. Stattdessen klingt die Vitesse mal etwas klarer und andersherum minimal softer. Die Wirkung ist dezent, doch kann man sie klar nachvollziehen.
Szene 3: Vitesse und der Hörraum
Eine Auseinandersetzung mit Klangdetails kann man sich eigentlich fast sparen, wenn klar ist, aus welcher Quelle die Vitesse stammt. Haben Sie jemals eine Audio Physic, eine Sonics oder eine Süßkind Audio gehört? Dann wissen Sie, wie lebendig, spritzig und natürlich die Vitesse klingt. Wir können es wohl am einfachsten mit dieser Momentaufnahme illustrieren: Als Joachim Gerhard die Boxen im Verlag ablieferte, hatte er zwei kniehohe Pappsäulen dabei, die eigentlich als Ausstellungsdisplays für Messen dienen. Eine Behelfslösung – Sie erinnern sich: keine Ständer. Wir stellten die Kisten schnell in den Hörraum, parkten die Vitesse darauf und schlossen sie an. Trotz der kaum artgerechten Behandlung musizierte die Kleine ab der ersten Sekunde plastisch, holografisch, scharf umrissen und offenbarte feinste Strukturen. Gerhard korrigierte mit zwei Handgriffen die Positionierung der improvisierten Ständer, und schon reichte die Abbildungs- und Bühnentiefe ins Unendliche. Nach weniger als einer Minute schwebten wir mitten durch die Musik und fanden uns auf einer riesigen Bühne wieder. Kurz gesagt: Die Spielfreude und Präzision dieser kleinen Kiste sind pures Hexenwerk!
Ansonsten verhält sich die Vitesse wie eine topaktuelle Kompaktbox. Sie ist breitbandig, völlig frei von Färbungen und grundsätzlich auch einigermaßen anspruchslos. Es erklärt sich allerdings von selbst, dass ein Lautsprecher dieser Größe, der zudem fast kein Innenvolumen besitzt, etwas Leistung benötigt. Von einer extremen Mini-Röhre sollte man absehen, an „normalen“ Transistoren wie Trigons Exxeed oder Naims Uniti Star funktionierte sie hingegen vorzüglich und erwies sich als reinrassiger Anmacher – ein typischer Joachim Gerhard eben!
Wir meinen
Eine unfassbar musikalische und schwungvolle Kompaktbox mit tiefem Fundament und klarer, transparenter Höhenwiedergabe. Das eigentliche Highlight der Vitesse sind allerdings ihre anmachende Optik und die superbe Verarbeitung. Ein wahres Meisterwerk.
Info
Lautsprecher Joachim Gerhard Collection Vitesse
Konzept: 2-Wege-Lautsprecher mit offenem Gehäuse (Passivmembran)
Bestückung: 2,1-cm-Hochtonkalotte, 15-cm-Tiefmitteltöner; beide von Scan-Speak
Anschlüsse: Bi-Amping-, Bi-Wiring-Terminal für Banana, Gabelklemmen und Litze
Besonderheiten: Phasen-Quadraturweiche, schaltbare Fast/Slow-Abstimmung beeinflusst Ausschwingverhalten des Basstreibers
Maße (B/H/T): 48/16/32 cm
Garantiezeit: 5 Jahre
Preis: um 4700 €
Kontakt
Rose-Handwerk Vertriebs-GmbH
Zum Wasserturm 14, Gewerbegebiet Brumlingsen
59872 Meschede-Freienohl
Telefon +49 2937 969890
www.joachim-gerhard-collection.de
Mitspieler
Verstärker: SPEC RPA-MG 1000, Aavik U-380, Naim Uniti Nova, Trigon Exxeed
Quellen: T+A MP1000E, Audiodata MusikServer MS II, Melco N1A, Auralic Altair, Innuos Statement
Lautsprecher: Wilson Audio Sasha DAW, Audio Note AN-J
Rack: Creaktiv Midi Reference, Solidsteel Hyperspike
Kabel: AudioQuest, Chord Company, Wire World