FIDELITY-Klangtipp #6 – Vinyl: Schwer oder leicht?
Illustration: Ralf Wolff-Boenisch
Pro
Wer erinnert sich nicht an die scheußlichen Hörerfahrungen der Kindheit und Jugend: dünnes Vinyl aus dem Hause Arcade oder K-Tel, das scheppernd seine Runden auf dem ersten Plattenspieler drehte. Mit Hochachtung langte man anschließend in Vaters Plattenkiste und griff schweres Vinyl aus den frühen und mittleren 1960er Jahren heraus, womöglich originale US-Pressungen diverser Jazzgrößen. Umso erfreulicher war es, als man Jahre später endlich richtiges Vinyl in den Händen halten konnte: 180-Gramm-Pressungen audiophiler Labels, deren klangtechnischer Vorteil auf der Hand lag. Die Dicke der Scheibe sorgt für eine größere Flankentiefe der Rille und folglich für einen größeren Informationsgehalt. Das Gewicht bewirkt, dass weniger Vibrationen und Erschütterungen, die trotz einer vernünftigen Abkopplung des Laufwerks auf das Vinyl einwirken, an die Nadel weitergegeben werden. Umso erfreulicher ist es, dass mittlerweile auch bei Neuerscheinungen nicht nur ausgewiesener audiophiler Labels ein Gewicht von 180 Gramm zunehmend der Standard ist und man so von einer besseren Stereoabbildung, einer größeren Bandbreite und einem stabileren Klangbild verwöhnt wird. Hinzu kommt, dass in diesen virtuell-digitalen Zeiten der Rückzug auf das analoge Hören einen holistischen Ansatz verfolgt, zu dem auch Haptik und Anmutung gehören. Der Genuss fängt hier bereits beim Anfassen und Auflegen des schweren Vinyls an, schließlich trinken wir unseren Bordeaux auch nicht aus Plastikbechern, und eine Breitling vermittelt ein angenehmeres Gefühl am Handgelenk als eine Apple Watch. Insofern repräsentiert die 180-Gramm-Pressung eine Kombination aus technischer Überlegenheit und körperlicher Ganzheitlichkeit, die das Wesen des Audiophilen ausmacht.
Contra
Sollte ich spontan und ohne Zögern die drei am besten klingenden LPs meiner Sammlung benennen, so wäre deren Gemeinsamkeit, dass es sich um leichtgewichtige Scheiben aus Japan handelt. Das Gewicht dürfte bei maximal 140 Gramm liegen, die Pressungen sind frei von Nebengeräuschen und zudem mit einer exorbitanten Dynamik gesegnet. Meine schlechtesten LPs? In letzter Zeit erstandene Reissues, die einen 180-Gramm-Sticker auf dem Cover tragen, dabei knistern, einen leichten Höhenschlag haben und zudem muffig tönen. Was will uns das sagen? Das Gewicht der LP ist nebensächlich. Ja, da gibt es die Theorie der Rillenflankentiefe, die Vorstellung, eine Nadel könne dort mehr Informationen abgreifen, und es gibt auch das sagenumwobene UHQR-Vinyl mit 200 Gramm, das tatsächlich phänomenal klingt. Die Gemeinsamkeit zwischen meinen Japan- und UHQR-Pressungen liegt aber primär darin, dass beiden eine sorgfältige Pressung zugrunde liegt, dass beide nicht auf Masse produziert wurden und damit auch Qualitätsstandards wie etwa ein langer Abkühlungsprozess oder das Beachten strenger Sauberkeit bei der Produktion zum Tragen kamen. Der Masseunterschied von 60 Gramm dürfte zu vernachlässigen sein. Der Verweis auf das Gewicht ist längst ein Marketing-Gag, der Qualität nach dem Motto „Size matters“ vortäuscht. Hinzu kommt, dass viele Audiophile womöglich nur nach einer recht umständlichen VTA-Erhöhung in der Lage sind, den theoretischen Vorteil dickerer Pressungen adäquat zu genießen. Stellt man sich nun vor, wie wenig Musikliebhaber sich womöglich der VTA-Prozedur nach jedem Wechsel von 140 zu 180 Gramm hingeben, so ist zu befürchten, dass jeweils die ein oder andere Variante unter ihren Möglichkeiten abgehört wird.
Und wie so oft im Leben gilt auch bei Vinyl das abgedroschene Bonmot der inneren Werte: Nicht die äußere Erscheinung des Gewichts ist für den guten Klang verantwortlich, sondern die Sorgfalt des Herstellungsprozesses.
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