Tucker Zimmerman im FIDELITY-Interview
Tucker Zimmerman ist die vermutlich unbekannteste Songwriter-Legende unserer Zeit: Sein Folk-Album 10 Songs aus dem Jahr 1968 gilt für viele als Meilenstein der Musikgeschichte. Jetzt spielte er im Alter von 83 Jahren mit Dance Of Love ein neues Werk ein. Ein Gespräch über Inspirationen von The Grateful Dead bis Michelangelo – und eine intime Begegnung mit Miles Davis.
Tucker Zimmerman entschuldigt sich. Dies sei eines der ersten Interviews seiner Karriere, und zudem der erste Zoom-Call seines Lebens: Man möge bitte milde über etwaige Unsicherheiten hinwegsehen … Zimmerman, 83, sitzt in einem behaglich, dabei etwas unaufgeräumt wirkenden Arbeitszimmer in seinem Haus in Belgien, wo der amerikanische Songschreiber seit Jahrzehnten lebt. Hinter sich eine Regalwand mit Büchern – er hat selbst einige Romane und Gedichtbände geschrieben – und einem Geigenkoffer. Der wird später noch eine Rolle spielen. Los geht’s.
FIDELITY: Mr. Zimmerman, Sie gelten als einer der großen Songwriter der Hippie-Ära. David Bowie war Ihr größter Fan. Dies ist wirklich eines der ersten Interviews Ihrer Karriere?
Tucker Zimmerman: Es hat sich nicht oft ergeben. Ich habe mich auch nie darum gerissen. Umso gespannter bin ich jetzt auf unser Gespräch. Ich freue mich! Und nennen Sie mich ruhig Tucker, das ist okay.
Lassen Sie mich mit etwas beginnen, das ich auf Youtube gesehen habe, Tucker. Es gibt dort einen Livemitschnitt aus einem Club in Belgien. Sie stellen Ihren Song „Michelangelo Hotel“ mit einer Anekdote vor. Sie waren an einem kalten Januartag allein in der Sixtinischen Kapelle in Rom, legten sich auf den Boden und betrachteten das Fresko von Michelangelo …
Ich erinnere mich an den Auftritt. Das muss mehr als zehn Jahre her sein. Habe ich da diese Geschichte erzählt? Die hat sich wirklich so abgespielt. Ein inspirierender Moment.
Lösen denn Farben und Formen bei Ihnen Vorstellungen von Klängen aus?
Ich fürchte, es war viel simpler: Ich lag da, habe hochgeschaut und diese Struktur von Quadraten gesehen. Das Fresko besteht ja aus vielen einzelnen Bildern, die mich an die Fenster in einem Hotel erinnerten, hinter denen sich einzelne Szenen abspielen. Es war die Geschichte, zu der mich Michelangelo inspiriert hat.
Michelangelo war auch Bildhauer. Er soll auf die Frage, ob es nicht schwierig sei, einen Löwen aus Stein zu meißeln, gesagt haben: Nein, man müsse nur alles weghauen, was nicht nach Löwe aussähe. Könnte das auch Ihr Credo sein? Keine Noten spielen, die nicht nach Tucker Zimmerman klingen …
Da ist was dran. Wenn ich Gitarre spiele, dann ist der Raum, den nicht gespielte Noten schaffen, entscheidend. Es steckt viel Energie in der Stille.
Auch Miles Davis sagte, entscheidend seien die Noten, die man nicht spielt.
Das ist so wahr! Ich selbst bin ja nur ein einfacher Songschreiber. Ich denke nicht nach. Mein Credo beim Schreiben ist: Steh dir nicht selbst im Weg. Wenn’s gut klingt, bleibt es. Wenn nicht, schreibe ich einen anderen Song.
Das ist ein schönes Motto.
Ich habe keine großen Erwartungen. Ich lass mich überraschen. Am Ende kann ein Löwe entstehen. Vielleicht aber auch ein Elefant. Wer weiß, vielleicht inspiriert mich dieses Gespräch zu einem Song? Übrigens, zu Miles Davis fällt mir auch eine Anekdote ein. Die habe ich noch nie bei einem Konzert erzählt. (lacht)
Lassen Sie hören!
Ende der fünfziger Jahre spielte Miles Davis im „Black Hawk“ in San Francisco, zusammen mit John Coltrane. Ich war 17 oder 18, und warum-auch-immer war ich der einzige Zuschauer im Club. Es war einfach niemand dort. Ich saß direkt vor der Bühne. Mir gegenüber stand Miles Davis, vielleicht einen Meter entfernt. Dahinter John Coltrane am Saxofon und Bill Evans am Klavier. Sie probten letztlich die Songs, aus denen kurz darauf das legendäre Album Kind Of Blue wurde. Grandios.
Sie werden bald 84 Jahre alt und sind überhaupt einer der letzten Zeugen bedeutsamer Kapitel der Musikgeschichte. Der Erfindung des Rock’n’Rolls, der Soulmusik, der ersten Konzerte von Bob Dylan …
Erschreckend, nicht wahr? Einiges ist bald für immer weg. Ich habe Ray Charles live gesehen, da war ich 17. Es wird keinen neuen Ray Charles geben. Ich habe früher jeden Abend Musik gehört. Ich hatte das Radio etwas frisiert, sodass ich eine schwarze Station aus Oakland empfangen konnte. Howlin’ Wolf, Bo Diddley, Fats Domino, alle in meinem Kinderzimmer. Ich habe die Melodien auf dem Klavier meiner Großmutter nachgespielt. Auch die von Grateful Dead übrigens. Ich bin vermutlich einer der letzten Menschen auf Erden, die das erste Grateful-Dead-Konzert noch erlebt haben.
Ein Deadhead der ersten Stunde!
Ich wohnte in San Francisco und war mit dem späteren Bassisten von Grateful Dead befreundet, Phil Lesh*. Wir waren für dasselbe Studentenprogramm eingeschrieben, ein Workshop für Nachwuchskomponisten. Damals spielte Phil übrigens nicht Bass, sondern Trompete. Dann gründeten sie The Grateful Dead.
Hätten Sie da nicht einsteigen können? Das wäre eine andere Karriere gewesen.
Aber nicht meine, nein. Ich war aber bei den ersten Proben und dann auch den Konzerten dabei. Als stiller Beobachter. Dabei habe ich eins gelernt: Zu spielen, ohne eine Vorstellung davon zu haben, was in den nächsten fünf Minuten passiert. Eine wunderbare Einstellung.
Tucker, schauen wir auf Ihr neues Album Dance Of Love. Im Eröffnungssong „Old Folks Of Farmersville“ trifft Ihr ruhiger Gesang auf eine fast schüchterne Gitarre und zarte Klänge der Pedal-Steel-Gitarre.
Dieser Song ist schon sehr alt. Ich habe ihn vor Jahrzehnten geschrieben. So wie eigentlich alle Stücke auf dem Album. Sie lagen quasi herum, jetzt ist ihre Zeit gekommen. „Old Folks Of Farmersville“ ist ein Stück über meine Großeltern, die mich großgezogen haben. Farmersville ist ein realer Ort. Meine Großeltern gehörten zu der Generation, die während der Great Depression vertrieben wurde. Sie waren Dirtfarmer, die den Boden mit den eigenen Händen bestellten und dann von Illinois aus nach Kalifornien zogen. Ich habe das einfache Leben kennengelernt. So klingt der Song dann wohl auch: einfach.
Der darauffolgende Song, „The Idiot’s Maze“, klingt ganz anders. Eher fröhlich und rhythmusbetont. Vom Sound her vielleicht ein bisschen wie von J.J. Cale.
„The Idiot’s Maze“ ist tatsächlich der einzige neue Song auf dem Album. Den habe ich kurz vor meiner Reise in die USA geschrieben, wo ich dann ins Studio gegangen bin. Er basiert aber auf einem Gedicht, das ich vor Jahren geschrieben habe. Warum der Song klingt, wie er klingt, und ob Cale drinsteckt: Da muss ich passen.
Sie haben seinerzeit in Rom Musikwissenschaften studiert. Verstehen Sie mich nicht falsch, aber müssten Sie Ihre Arbeit nicht analytisch reflektieren können?
Es ist richtig, ich bin musiktheoretisch ziemlich gebildet. Ich nutze dieses Wissen aber nicht. Vielleicht war dies das Wichtigste, was ich an der Universität gelernt habe: Halte es einfach und vergiss, was du gelernt hast. Ich spiele heute noch genau dieselben Akkorde wie 1965. Der Rhythmus zählt, der Groove. Nicht die Komplexität von Akkordfolgen. Ich spiele meine Gitarre eigentlich wie ein Schlagzeug mit Saiten.
Sie geben auf Ihrer Homepage Musikempfehlungen. Was haben denn Bach, Debussy, Marvin Gay und ZZ Top gemeinsam?
Ich höre das alles gerne, ganz einfach. Ich mag klassische Musik sehr. Als Student habe ich Wochen damit verbracht, die Klaviermusik von Brahms und auch Debussy zu analysieren. Bach aber ist für mich die ultimative Musikerfahrung. Ich habe damals gelernt, Fugen und Kanons zu komponieren – und dabei meine Grenzen aufgezeigt bekommen. Dann habe ich die Arbeit beiseitegelegt, das Radio angemacht und Bob Dylan oder ZZ Top gehört.
Zu ZZ Top: Sie führen in Ihrer Empfehlungsliste vor allem die Alben der achtziger Jahre auf, Eliminator, Recycler und Afterburner. Was ist mit dem Klassiker Tres Hombres? Sie mögen eher diesen Synthesizer-Sound?
Ja – aber keine Ahnung, warum. ZZ Top sind eine meiner Lieblingsbands. In den Achtzigern habe ich sehr viel Musik gehört. Heute ja nicht mehr so viel. Wenn man ein bestimmtes Alter erreicht hat, verschieben sich die Bedürfnisse. Dieser Tage schätze ich vor allem ein gutes Schläfchen. Das werde ich auch gleich nach unserem Gespräch machen. Ich bin recht schnell erschöpft.
Wir kommen bald zum Ende. Eines bitte noch. Auf Ihrer Homepage ist auch Ihre Autobiografie zu finden. Was mich gleich zu Beginn fasziniert hat: Mit vier Jahren haben Sie die Violine Ihres Großvaters geerbt, und von da an war offenbar klar – Musik wird Ihr Leben bestimmen.
Ich habe sie noch! Wollen Sie sie sehen?
Natürlich!
Tucker Zimmermann erhebt sich. Man sieht ihn im Hintergrund im Bücherregal kramen, dann wuchtet er einen Geigenkoffer auf den Tisch.
Da ist sie! Die Geige meines Großvaters väterlicherseits. Hier steht noch sein Name: Edward Zimmerman. Er hat dieses Instrument selbst gebaut. Er war Architekt, spielte aber am Wochenende bei Tanzveranstaltungen Violine.
Spielen Sie sie noch?
Nein. Ich kann sie nicht mehr richtig halten. Die Gelenke … Sie ist auch kein wertvolles Instrument. Hat aber einen schönen Klang.
Erinnern Sie sich an den ersten Song, den Sie seinerzeit darauf spielten?
Nein. Irgendetwas von Mozart, fürchte ich. Aber ich erinnere mich an die ersten Lieder, die ich gesungen habe. Meine Großmutter hat mir jeden Abend ein Lied vorgesungen. Kennen Sie „The Fox“?
Nein.
Tucker Zimmerman singt: „The Fox went out on a chilly night, he prayed to the moon to give him light. For a many a mile to go that night, before he reached the town-o, town-o, town-o, many a mile to go that night…“ Das erste Lied meines Lebens. Dann aber kam auch schon Mozart. Meine Großmutter schickte mich zum Musikunterricht mit meiner Geige, das war knallhart. Hat mir nicht gefallen.
Tucker, eine Stunde ist bereits herum. Das waren meine Fragen.
Das hat Spaß gemacht. Sag, Philip, jetzt habe ich eine Frage. Vielleicht inspiriert unser Gespräch mich zu einem Gedicht. Wäre das okay?
Wow … Das habe ich noch nie erlebt.
Mal sehen, was passiert. Ich kann nichts versprechen. Und jetzt lege ich mich erst einmal hin. Ich bin müde. Auf Wiedersehen!
Tucker Zimmerman ist, so hat ihn zuletzt der Deutschlandfunk genannt, eine stille Songwriter-Legende. Für Aufsehen sorgte der 1941 im Mittleren Westen der USA geborene und in Kalifornien aufgewachsene Künstler bereits 1968 mit seinem Debüt 10 Songs, das Musiker wie David Bowie als eines der wichtigsten Alben aller Zeiten schätzen. In den vergangenen Dekaden hat Zimmerman – nicht mit Bob „Robert Zimmerman“ Dylan verwandt – verschiedene Alben, vor allem aber auch Gedichte veröffentlicht. Er lebt, nach einem Musikstudium in Rom, seit Jahrzehnten in Liège in Belgien. Jetzt veröffentlichte er ein neues Album: Dance Of Joy wurde gemeinsam mit der New Yorker Indie-Folk-Band Big Thief eingespielt.
Dies ist das Gedicht, das Tucker Zimmerman nach dem Interview mit Philip Wesselhöft verfasste:
Even Half
I welcome your debate
it gives me a half a chance
to learn a little bit more
about myself
long ways to go
before I’ll know
even half of what goes on
inside my head
August 2, 2024
*Anm. der Red.: Wie erst nach Redaktionsschluss bekannt wurde, ist Phil Lesh am 25. Oktober 2024 verstorben.