Tori Amos – Zurück zum Pop?
Vom „Cornflake Girl“ über die Zähmung eines klassischen Orchesters bis zur Malerei: Die experimentierfreudige Künstlerin porträtiert auf ihrem neuen Album Unrepentant Geraldines sich selbst
Die Zeit der Experimente ist vorbei. In den letzten Jahren hatte sich Tori Amos in diversen Genres außerhalb des Popbereichs umgesehen. So hatte die US-Künstlerin für das Album Gold Dust einige ihrer älteren Songs mit dem Amsterdamer Metropole Orchester eingespielt und dabei eine Menge gelernt: „Mit einem Orchester zu spielen, das war, als würde ich mit einem Drachen kämpfen“, schwärmt sie, „ich saß mit meinem Bösendorfer-Piano und in High Heels oben auf dem Rücken des Drachens, und ich beobachtete sehr genau die Bewegungen des Drachendompteurs. Denn Drachen speien nun mal Feuer. Nur wenn du sie beherrschst, umzingelt dich ihr Feuer wie ein schöner goldener Ring.“
Es war also höchste Zeit für die eigenwillige Künstlerin, die 1994 mit ihrer Single „Cornflake Girl“ weltweit bekannt geworden war, zum Pop im erweiterten Sinne zurückzukehren. Deshalb sammelte sie parallel zu den sehr unterschiedlichen Musikprojekten schon mal Ideen für ihr 14. Studioalbum Unrepentant Geraldines. So zog sie sich nach einer anstrengenden Phase mit dem Orchester oder Musicalteam immer mal wieder in ihre Wahlheimat Florida zurück und ließ sich den Seewind um die Nase wehen: „Um den Kopf frei zu bekommen, unternahm ich länge Strandspaziergänge durch ein Naturreservat, in dem es nur Sand und Meer gibt. Dort verarbeitete ich die Erfahrungen der letzten Zeit und verpackte sie in meinen neuen Liedern. Insofern sind die Songs so etwas wie ein privates akustisches Selfie.“
Wie auch sonst so oft in den 22 Jahren ihrer bewegten Karriere mischt sie diesmal wieder Pop mit Jazz, Folk und Klassik. Das neue Album erinnert streckenweise an ihre Musik aus den ersten Tagen. Es wirkt nur wesentlich reifer und – vor allem, was den Gesang betrifft – entspannter. Tori Amos weiß, was sie kann und was sie will und dass sie kann, was sie will. Und sie spielt mit ihrer Stimme, lässt sie in „Oysters“ an die der britischen Zeitgenossin Kate Bush erinnern oder – wie im mit Vogelstimmen verzierten Titelsong – an Madonna. Mit der extrovertierten US-Kollegin hat die Tochter eines Methodisten-Pfarrers das Faible für das Thema Sünde in all ihren faszinierenden Variationen gemeinsam. Das zeigt sich auch hier wieder. Der Titel Unrepentant Geraldines heißt so viel wie „reuelose Geraldines“. Die Idee dazu kam Tori, als sie in einem Buch mit irischen Erzählungen aus dem neunzehnten Jahrhundert blätterte: „Ich stieß dabei auf eine Abbildung von einer Gläubigen namens Geraldine, die sehr reumütig zu einem Marienbild hochsieht. Von ihrem Blick her kann man davon ausgehen, dass Geraldine wohl eine ganze Menge ausgefressen haben muss. Das Ganze erinnerte mich an die Bilder von der reumütigen Magdalena, die ich mir davor angesehen hatte.“
In ihren neuen Songs nimmt Tori Amos auch ihre alte Gewohnheit wieder auf und setzt sich kritisch mit dem Weltgeschehen auseinander. Im von ihrer Liebe zum Folk geprägten „Giants Rolling Pin“ greift sie das Thema der Bespitzelung durch die NSA und andere Abhördienste auf und macht daraus ein Songmärchen über Zauberkuchen, die „die Menschen dazu bringen, immer und überall die Wahrheit zu sagen. Heutzutage weiß man doch nicht mehr, wer die Wahrheit sagt und wer nicht“, beschwert sie sich, „dass Regierungen ihre Bürger ausspähten und behaupten, sie täten das nur für unsere Sicherheit, kennen wir ja schon. Das Beunruhigende ist doch die Frage: Was geschieht mit Menschen, die zwar nicht das Leben anderer bedrohen, die aber nicht mit bestimmten Ideen der Regierung einverstanden sind? Werden sie als Bedrohung gesehen und auch so behandelt?“
Neu in Tori Amos‘ Themenkreis: Die Beschäftigung mit der Malerei. Dabei entdeckte sie die Qualitäten des französischen Impressionisten Paul Cézanne: „Ich brauchte lange, bis ich ihn verstand. Wobei ich gar nicht so tun will, als wüsste ich viel über Malerei“, sagt sie, „mit Verstehen meine ich, dass ich beim Betrachten seiner Bilder etwas höre und dass es mich musikalisch inspiriert. Mein Gehirn nimmt über die Augen etwas auf, und dann höre ich Rhythmen oder eine Abfolge von Akkorden.“ So entstand der Song „Sixteen Shades of Blue“, während sie Cézannes Bild „Die schwarze Marmoruhr“ betrachtete. „Ich fand später in einem Buch über Cézanne ein Zitat von Rainer Maria Rilke, der beobachtet hatte, dass er mit mindestens 16 Blautönen arbeitete“.
Passend zum Uhrenmotiv thematisiert Tori Amos in diesem Song auch das Älterwerden. Sie wurde im August letzten Jahres 50 und ist sich nicht sicher, ob das in ihrem Umfeld ein Grund zum Feiern ist. Es empört sie, dass die Diskriminierung aufgrund des Alters im Musikgeschäft wesentlich ausgeprägter ist als in anderen Sparten. Vor allem weibliche Künstler haben es schwer, ab einem gewissen Alter noch Plattenverträge zu bekommen. Dass eine Künstlerin wie die kanadische Singer-Songwriter-Legende Joni Mitchell ihre Alben mittlerweile über den Kaffeethekengiganten Starbucks verkaufen muss, schockiert sie. „Und es deprimiert mich. Immerhin hat Joni unser aller Verständnis von Musik sehr stark verändert.“ Für ihr aktuelles Album habe sie erst wieder einen neuen Vertrag aushandeln müssen, erzählt Tori: „Ich bin dankbar, dass ich es geschafft habe. Aber ich finde, es gibt noch viel mehr Frauen mit 50 oder älter, die es verdient hätten.“ Bei Männern dagegen komme es offensichtlich nicht so sehr auf Alter und Aussehen an, hat sie beobachtet: „Männer in diesem Alter gehen als weise durch, egal wie sie aussehen.“
Ihr Trost und ihre Stärke: Vor allem auf Tournee fühlt sie sich unterstützt von ihren Songs. Für sie als Schöpferin sind ihre Lieder Persönlichkeiten, zu denen sie eine Beziehung entwickelt. „Es sind sehr eigenwillige lebendige Wesen, die selbst bestimmen, wann sie sich zeigen und die genau wissen, welche Instrumente sie gern als Begleitung hätten.“
Dazu gehört meist das Bösendorfer-Piano, dessen besondere Qualitäten sie schon als kleines Mädchen beim Unterricht für Hochbegabte am renommierten Peabody Institute der John Hopkins University in Baltimore entdeckte und das sie auch bei ihren Live-Auftritten zu Höchstleistungen anspornt: „Genau wie meine Songs sehe ich auch diese Instrumente als lebendige Wesen. Sie ermahnen mich ständig: ,Wach auf. Pass auf, dass du deiner Verantwortung als Musikerin gerecht wirst. Werd nicht zu bequem.‘ Es ist ein Privileg, Musikerin zu sein!“
Bilder: Amarpaul Kalirai/Mercury Classics