Albumdoppel: Tina Brooks/Joe Bonamassa
Der Blues, diese archaische, elementare Songform, wird nie alt.
Unendlich scheinen die Möglichkeiten, den simplen Zwölftakter zu variieren – stilistisch, formal, harmonisch, rhythmisch. In Anspielung auf die Farbe, die im Wort „Blues“ steckt – blau ist die Melancholie –, vergleichen die Musiker ihre Blues-Variationen gerne mit verschiedenen Abstufungen, Tönungen, Facetten von Blau. Es gibt bluesige Jazzstücke, die „Azure“, „Mood Indigo“, „Cobalt Blue“ oder „Light Blue“ heißen. Es gibt Alben mit Titeln wie Kind Of Blue oder Three Or Four Shades Of Blue. Auf dem Cover von Tina Brooks’ True Blue ist die Idee der verschiedenen Blues-Facetten optisch umgesetzt wie eine Farbpalette.
Auch „True Blue“ ist übrigens ein offizieller Blauton – zugleich aber ein Slang-Ausdruck für „aufrichtig“, „verlässlich“, „loyal“. (Daher gibt es auch von Madonna oder Billie Eilish, die nicht unbedingt als Blues-Interpretinnen bekannt sind, Stücke dieses Titels.) Der Blue-Note-Grafiker Reid Miles, der in seinem Beruf sicherlich häufig mit Farbfächern gearbeitet hat, erlaubt sich hier einen kleinen Spaß: Er schreibt unter seine Blautöne auch „Blue Jeans“ oder „Blue Note“ oder macht Sprachspiele mit Bezug auf ähnlich klingende Wörter wie „glue“, „you“ und „true“. Ins Feld „True Blue“ setzt er natürlich ein Foto des Musikers – Tina Brooks.
Tina Brooks war einer dieser vielen Saxofonisten, die sich um 1960 im Hardbop-Idiom tummelten – und einer dieser vielen zu früh Verstorbenen im modernen Jazz. (Sein ungewöhnlicher Vorname „Tina“ ist aus dem Spitznamen „Teeny“ entstanden, den er als Kind trug.) Brooks hatte nicht die „Schule des Jazz“ durchlaufen, nicht sein „Lehrgeld“ in den Bigbands bezahlt. Er kam vielmehr aus dem Rhythm’n’Blues, hatte zusätzlich etwas Harmonielehre studiert und fühlte sich mit etwa 26 Jahren bereit, in der Hardbop-Szene von New York zu bestehen. Der Trompeter Bennie Harris förderte ihn und stellte ihn dem Blue-Note-Produzenten Alfred Lion vor. Harris genoss ein gewisses Renommee als Talent Scout, denn er hatte einst auch Charlie Parker protegiert und überhaupt dem Bebop-Stil auf die Sprünge geholfen. Harris schrieb auch einige Bebop-Klassiker wie „Ornithology“, „Crazeology“, „Reets And I“ oder „Wahoo“.
1954 hatte der Hardbop begonnen New York zu erobern – und drohte bald zur Modewelle und zum Klischee zu werden. Das Label Blue Note, das seinen Ruhm dem Erfolg dieser Stilrichtung verdankte, produzierte Hardbop-Platten quasi am Fließband. Zeitweise kam der Produzent gar nicht mehr mit dem Veröffentlichen hinterher – nur die vermeintlichen „Betterseller“ kamen zum Zug. Viele Aufnahmen, die Lee Morgan, Grant Green, Hank Mobley in den 1950er und 1960er Jahren für Blue Note gemacht haben, sind erst nach 1980 aus den Archiven geholt und veröffentlicht worden.
Auch Tina Brooks bekam bei Blue Note keine Vorzugsbehandlung. Zwar hat er von 1958 bis 1961 fünf Leaderplatten für das Label geleitet, aber nur eine davon – nämlich True Blue – ist zeitnah erschienen. (Die anderen wurden erstmals in den 1980er Jahren bei Blue Note Japan bzw. Mosaic Records veröffentlicht.) Immerhin war Brooks auf einigen anderen Blue-Note-Platten als Sideman beteiligt, vor allem bei Jimmy Smith, Kenny Burrell und Jackie McLean. Das lässt schon vermuten, dass er keineswegs nur ein durchschnittlicher oder unauffälliger Solist war. Der Jazzfachmann Michael Cuscuna nennt ihn „einen der brillantesten, wenn auch unterschätzten, Tenorsaxofonisten im modernen Jazz“.
Fünf der sechs Stücke des Albums True Blue hat Tina Brooks selbst geschrieben. Die Highlights sind die Opener beider Plattenseiten – komplex gebaute, fantasievolle Kompositionen zwischen Hardbop und Latin-Soul-Beat (mit straighten Achteln) und mit raffinierten Vamps für die Rhythmusgruppe. Als Solist verbindet Brooks das expressive „Wailing“ und „Honking“ des R’n’B mit chromatischen Jazzläufen – diese ziemlich einzigartige Mischung fesselt sofort die Aufmerksamkeit des Hörers. Der Bläserpartner hier ist der 22-jährige genialische Trompeter Freddie Hubbard. Sechs Tage vorher hatten Brooks und Hubbard auf Hubbards Debütalbum ebenfalls zusammen gespielt.
Auch Joe Bonamassa bekommt nie genug vom Blues. Obwohl kein Innovator, war er der Gitarrenstar des frühen 21. Jahrhunderts. Keinem gelingt es so wie Bonamassa, alte Songs mit neuen Ideen aufzufrischen, neue Songs mit alten Tricks zu Klassikern zu machen und obendrein die Bluesrock-Gitarre einmal unerwartet anders zu spielen. Vor einigen Jahren nannte er eine Veröffentlichung Different Shades Of Blue – da hätte er bereits eine Blauton-Palette aufs Cover setzen können.
2023 schließlich hat er es getan. Das Album Blues Deluxe Vol. 2 greift die Idee eines 20 Jahre alten Vorgängers wieder auf. Vol. 1 war im Jahr 2003 der Markstein für Bonamassas Durchbruch, als seine Karriere gerade dümpelte, nachdem er von zwei Majorlabels und seinem Booking-Agenten fallen gelassen worden war.
Wie damals hat er auch auf Vol. 2 ziemlich unbekannte Bluessongs gecovert, seltene Perlen aus dem Repertoire eines Bobby Bland, Guitar Slim oder Albert King. Bonamassa singt und spielt sie im Mainstream-tauglichen Memphis-Sound (mit Bläsern und Streichern) und mit einem Hauch des Londoner Bluesrock der 1960er Jahre. Ein Stück der frühen Fleetwood Mac („Lazy Poker Blues“, 1968) kann da nicht fehl am Platz sein.
Tina Brooks – True Blue
Blue Note 28975, 1960
Joe Bonamassa – Blues Deluxe Vol. 2
J&R Adventures JRA 93992, 2023