The Gryphon Diablo 120 – Der kleine Greif erhebt seine große Stimme
Was das mythische Fabelwesen Greif (The Gryphon) mit einem Opernhaus in Athen und der Atomsekunde zu tun hat.
Fotografie: Ingo Schulz
An jedem neuen Tag begleitet mich ein „Tagesthema“, das ich entweder im Radio, in der Tageszeitung oder auf der Straße aufschnappe. An jenem Tag, als mir Cai Brockmann den Gryphon Diablo 120 zum Test ankündigte, war es die Uraufführung der Oper Elektra in Athen. Ein steinreicher Mäzen hat den gebeutelten Griechen ein phänomenales Opernhaus geschenkt, das den Vergleich mit den führenden Häusern der Welt nicht scheuen muss. Darüber freue ich mich außerordentlich, gerne wäre ich dort gewesen. Ich bin zwar nicht unbedingt als Opernliebhaber bekannt, doch jedes leidenschaftliche Konzert berührt mich emotional stark – egal, ob es nun eine Oper in der griechischen Hauptstadt oder ein Rock-Gig der Dorfband im australischen Outback-Kaff Bourke ist. Am Tag, als der Gryphon Diablo dann bei mir eintraf, erfuhr ich vom 50. Geburtstag der Atomsekunde. Solche Errungenschaften der Menschheit finde ich immer hoch spannend. Die Sekunde wurde erstmals im Jahr 1000 als Sechzigstel einer Minute erwähnt, im Jahr 1585 gab es die erste Uhr mit einem Sekundenzeiger und seit dem 13. Oktober 1967 die offizielle Definition der „Atomsekunde“ mit einer unvorstellbaren Präzision.
Beide Ereignisse, Oper und Atomsekunde, führen uns direkt zum Diablo 120. Denn meine Erwartungshaltung gegenüber dem neuen kleinen Vollverstärker von Gryphon wird damit recht exakt umrissen: ein Vortrag mit emotionaler Musikalität bei gleichzeitig eingebetteter atomarer Genauigkeit. Ob der neue Vollverstärker diese hochgesteckte Erwartung einlösen kann?
Mit seiner Marke Gryphon (auf Deutsch: „Greif“) hat Flemming E. Rasmussen ein High-End-Unternehmen geschaffen, das eine enorme Reputation in der ganzen Welt genießt. Rasmussen hat ohnehin eine erstaunliche Vita vorzuweisen. Seine besonderen Fähigkeiten hat er unter anderem als Fotograf und Zeichner, Mode- und Industriedesigner, Unternehmenslenker und HiFi-Importeur weiterentwickelt, bevor er 1985 Gryphon gründete. Der Start mit einem kleinen Kopfhörerverstärker, der dank eines Tests in Japan mit „Best Buy“-Stempel plötzlich durch die Decke ging, wird vielen bekannt sein. Es ist immer wieder erstaunlich, wie Ereignisse und Zufälle zur richtigen Zeit eine enorme Dynamik entfalten können und ganz neue Stars auf das Podest heben. Manche können auch bestehen: Von Anfang an hat Rasmussen die Dinge bezüglich Design, Qualität und Langzeitverhalten zu Ende gedacht wie kaum ein zweiter.
Heute bespielt Gryphon sehr erfolgreich die HiFi-Oberklasse, vor allem bei den Verstärkern. Das Portfolio wird mit Digital- und Lautsprecherprodukten, aber auch mit Kabeln und Zubehör komplettiert. Gryphon-typische Preise beginnen derzeit beim CD-Player Scorpio für 9000 Euro und steigen dann rasant auf bis in die Superluxus-Klasse; das Lautsprechersystem Kodo kostet zum Beispiel mehr als 300 000 Euro.
Obwohl Gryphons diverse Vor- und Endverstärker sämtlich State-of-the-Art-Status besitzen, hat Rasmussen nie den Vollverstärker vergessen oder ihn zweitklassig geredet. Im Gegenteil, er hebt ihn mit der firmeneigenen Konsequenz auf die gleiche Stufe mit Erstgenannten und propagiert auch die Vorteile wie zum Beispiel kürzere Signalwege, Handling- und Preisvorteil bei identischer, referenzverdächtiger Klangqualität. Und der Erfolg gibt Gryphon recht: Der (Ur-)Diablo wurde während seiner zehnjährigen Produktionsdauer zu Tausenden verkauft und gehört zu den erfolgreichsten High-End-Vollverstärkern überhaupt. Er hat weltweit eine Vielzahl an euphorischen Tests eingefahren und ist für Gryphon so wichtig wie die 3er-Serie für BMW, ein Herzstück der Firma. Der Diablo wurde 2016 durch den etwas höher positionierten Diablo 300 abgelöst, der eine ebenso erfolgreiche Fortsetzung dieser Karriere ansteuert. Das erste große Ausrufezeichen ist dann auch ein RIHPA (Rocky Mountain International HiFi-Press Award) für den besten Vollverstärker des Jahres 2017. Dieser größte und international bedeutendste HiFi-Award, bei dem FIDELITY als Mitausrichter und Jury-Mitglied beteiligt ist, wird alljährlich auf dem Rocky Mountain Audio Fest in Denver vergeben.
Der jetzt neu eingeführte kleine „Greif“ heißt Diablo 120, orientiert sich überdeutlich am 300er und ersetzt gleichzeitig den ausgelaufenen Atilla, der seit 2009 seine Klasse angeführt hatte. Der Diablo 120 ist eine ganz bemerkenswerte Evolutionsstufe mit den identischen Designelementen des großen Bruders: So kann auch der 120er entweder mit einem Phono- oder einem Digitalmodul bestückt werden. Gryphon hat mir erfreulicherweise einen 120er mit dem D/A-Wandlermodul zur Verfügung gestellt, das vom hoch gelobten DAC Kalliope abgeleitet sein soll.
Der mechanische Aufbau des Verstärkers ist sehenswert. Konsequente Doppelmono-Technik, extrem kurze Signalwege und höchstwertige Bauteile in „audiophile grade“ versprechen langfristige Zuverlässigkeit und thermische Stabilität. Der Diablo 120 ist dank sorgfältiger elektrischer und mechanischer Erdung vorbildlich stumm, was Eigengeräusche betrifft. Diese Punkte sind mir wichtig. Ich mag Geräte, die bis zum Ende durchdacht sind. Sobald ich irgendwo eine technische Schwäche oder dergleichen entdecke, geht bei mir der Daumen nach unten. Was beim Diablo 120 auch bei eingehender Betrachtung nicht passiert.
Die Ausgangsleistung ist rund 20 Prozent höher als die des Vorgängers und verdoppelt sich bei jeder Lasthalbierung, was für hohe Stromlieferfähigkeit spricht. Die enorme Bandbreite von 0,1 Hz bis 250 kHz, eine 46-stufige Lautstärkeregelung höchster Präzision und der Verzicht auf Gegenkopplung versprechen stabile Qualitäten. Die Anzahl der Anschlüsse sowie der mögliche Individualisierungsgrad sind absolut praxisgerecht. Das zukunftssichere D/A-Wandlermodul bietet vier digitale Eingänge und kann alles an DSD- und PCM-Daten verarbeiten, was heute so in Sichtweite ist. Da Gryphon auch immer die Vinyl-Fraktion im Visier hat (man denke nur an solche Meilensteine wie den Orestes), ist statt des DACs auch eine Phonovorstufe einbaubar. Leider steht mir diese derzeit nicht zur Verfügung – ich plädiere als Vinyl-Head für einen Nachschlag in einer der kommenden Ausgaben.
Beim Thema Design bin ich ein Anhänger der Bauhaus-Philosophie, die vom ehemaligen Apple-Chef Steve Jobs sicherlich zur Marketing-Perfektion getrieben wurde. Design ist nicht nur „Aussehen“, sondern alles: vom Auspackerlebnis bis zur Inbetriebnahme, von der elektrischen und mechanischen Konstruktion bis hin zur intuitiven Bedienung und Langzeitfunktion.
In diesem Feld zielt der Diablo 120 auf eine Spitzenposition, Verarbeitung und Bedienung sind ein Traum. Bisher dachte ich immer, ohne einen geschmeidig laufenden Lautstärkeregler ginge gar nichts. Doch die berührungssensitive Bedienlogik des kleinen Gryphon fasziniert mich mindestens ebenso wie das dezente Klacken der Relais. Die digitale Vakuum-Fluoreszenz-Anzeige auf der Frontmitte scheint mir ideal groß zu sein und wird neben Pegel und Eingangswahl bei eingebautem Wandlermodul mit den wichtigsten Aggregatzuständen wie Abtastrate, Bitauflösung und Filterwahl ergänzt. Die Gehäusekonstruktion mit den verschachtelten Kuben im idealen Kontext mit den Kühlrippen ist nach meiner Meinung ein zeitloses Meisterwerk. Ein weiteres Beispiel ist die Fernbedienung. Die kann man in Bezug auf Haptik, Minimaldesign und Funktion nicht besser machen. Das ganze Gerät strahlt auch funktional eine ganz besondere Eleganz aus.
Das Anschlussterminal ist schlicht perfekt, extrem hochwertig und edel. Nach der Verkabelung betätige ich den harten Netzschalter, der vorne rechts unten am Gerät positioniert ist. Und es tut sich erstmal gar nichts. Aha, klar, Standby wird damit aktiviert. Für die Arbeitsaufnahme wird der Diablo 120 entweder über die Fernbedienung oder das rot leuchtende Logo auf der Front eingeschaltet, sodann benötigt er rund zehn Sekunden für die Initialisierung. Und dann erhebt der Greif endlich seine Stimme …
Vom Kaltstart weg macht er auf sich aufmerksam, schon frisch aufgeweckt klingt er sehr homogen. Gut so, denn der Einspielvorgang findet bei uns im Wohnzimmer immer „lebend“ mit TIDAL HiFi und Radioprogramm statt. Der Hinweis in der Bedienungsanleitung „Am besten immer am Netz lassen“ ist mir sympathisch, bei dem geringen Stromverbrauch auch vertretbar.
Nach 24 Stunden Warm-up kann die Jagd nach Erkenntnissen beginnen. Über die Line-Eingänge spiele ich meine persönliche Referenzmusik mit dem Luxman DA-06 ein, einer der meiner Meinung nach besten DACs am Markt – und bin rundum erstaunt. Warum? Ich habe schon unzählige Verstärker besessen und wandle zwischen den Welten. Ich mag Röhre wie auch Transistor, da teile ich nicht den Schwarz-Weiß-Glaubenskrieg. Für mich zählt das Ergebnis. Und das stimmt hier, der erste Eindruck ist grundgut und gewaltig. Als ich die Digitalquelle auf den BNC-Eingang des D/A-Modules umstecke, höre ich 96-kHz-Versionen von Dead Can Dance (die komplette Diskografie liegt mir in MFSL-Hochbit vor) sowie diverse Produktionen von Steven Wilson gleich noch einmal. Ich frage mich ja manchmal, ob der 1967 geborene Prog-Messias Wilson überhaupt irgendwann schläft. Er betreibt sechs Bandprojekte, eine Solokarriere und ein Musiklabel, er produziert unzählige Bands (meines Wissens elf derzeit), und alle seine Produktionen besitzen eine hervorragende Qualität, selbst live setzt Steven Wilson diesbezüglich Maßstäbe. Seine beiden Alben The Raven That Refused To Sing und Hand.Cannot.Erase sind Meisterwerke, erzählen spannungsgeladene Geschichten mit allen vorstellbaren Dynamikattributen. Die israelische Sängerin Ninet Tayeb zelebriert das Gesellschaftsleid und die Grazilität in einer Art und Weise, die unmittelbar Gänsehaut erzeugt … Und all die innere Spannung und Dynamik transportiert der Diablo 120 einfach traumhaft– besser geht es nicht, höchstens anders. Weiter geht es mit 44,1 kHz FLAC über Tidal-HiFi mit dem vorrangig klavierlastigen Instrumental-Crossover Open von den Grandbrothers, darauf folgt sanfter US-Metal von Puscifer mit der LP Money Shot. Hier wird die hochtransparente Bassdifferenzierung des Diablo 120 mehr als offenkundig, geradezu beispielhaft. Immer wieder zwischendurch zu meinem Referenz-DAC umgeschaltet, komme ich nicht umhin festzustellen, dass das interne Diablo-Modul mindestens gleichwertig spielt, unterm Strich sogar Vorteile verbucht.
Ohne Vinyl geht es bei mir gar nicht, der berühmte „Schwarzwert“ bedarf einer Einordnung. Meine Phonovorstufe Whest Three liefert bei 100 Ohm Abschluss das Kleinsignal vom Ortofon Windfeld. Nach dem soeben erfahrenen digitalen Durchmarsch überrascht mich jetzt gar nichts mehr. Ob Opeth mit The Roundhouse Tapes oder voll analog produzierter Blues von Siena Root mit der LP A New Day Dawning oder die schon erwähnte Hand.Cannot.Erase von Steven Wilson – selten hat mir der Vinyl-Zauber so viel Freude gemacht. Die außergewöhnliche Raffinesse, Ausgewogenheit und Kontraststärke des Amps erzeugen einen harmonischen Reichtum, der mich auf Anhieb und auch nach Wochen noch immer begeistert. Besonderen Wert haben dabei für mich „das erste Watt“ und eine mittlere Abhörlautstärke. Klar, richtig laut „kann“ der Diablo 120 auch sehr gut, das interessiert mich aber wirklich nur am Rande. Da echte Langzeittauglichkeit für mich eine der wichtigsten Kriterien ist, lege ich mich aufgrund seiner herausragenden „Leisequalitäten“ fest : Der Gryphon Diablo 120 ist ein gültiges Referenzprodukt.
Stichwort Lautsprecher: Meine Thiel CS 3.7 „mögen“ wegen ihres nicht unkritischen Impedanzverhaltens, der vorbildlichen Schnelligkeit und hochpräziser Präsenzstärke längst nicht jeden Amp. Trotzdem halte ich die Thiel für ebenso langzeittauglich wie die Harbeth M30. Überrascht? Ja, das dürfen Sie ruhig sein. Ich habe drei Jahre und acht Verstärker gebraucht, um das für mich optimale Setup zu finden. Zwischenzeitlich war ich schon zu der Überzeugung gelangt, dass ein ansatzlos spielender neutraler Röhrenverstärker die richtige Lösung für die Thiel ist, und konnte mich für eine reine Röhrenkombi von McIntosh begeistern. Nun aber hält zu meiner großen Überraschung der Diablo 120 als erster Transistor voll mit, zieht mich emotional voll in die Musik hinein, baut das Klangbild genauso integrativ zusammen, wie ich mir das vorstelle. Ob das an der fehlenden Rückkopplung liegt? Mag sein. Die beiden Vorgänger-Vollverstärker konnten das nicht so souverän. Der Mark Levinson 585 wirkte an der Thiel zu sehnig, der Pass INT60 hat mir persönlich zu breit abgebildet. Das mag bei anderen Lautsprecherkonzepten anders aussehen, die geschlossene und zugegeben kritische Thiel umarmt auf jeden Fall den kleinen Greif aus Dänemark.
Irgendeine besondere Neigung für ein bestimmtes Musikgenre kann ich dem Diablo in keiner Weise nachsagen. Übrigens auch keine Kabelempfindlichkeiten. Bei den Netzkabeln habe ich aus meinem Fundus das HMS Grand Finale Jubilee, das HMS Suprema und das Graditech Voima ausprobiert, wobei mir das Voima eine Spur ausgewogener erscheint, das Suprema wiederum die höchste Substanz bietet. Geschmackssache.
Der Gryphon Diablo 120 ist ein echtes Ausnahmeprodukt und wird seinem hohen Preis tatsächlich gerecht. Der typisch hohe Wiederverkaufswert von Gryphon-Produkten wird den Differenzbetrag des Diablo 120 zu einem Verstärker XY sicher irgendwann wieder refinanzieren. Aber: verkaufen? Oder: gebraucht kaufen? Haben Sie schon bemerkt, wie selten sich Gryphon-Besitzer von ihren Spielsachen trennen? Das sagt wohl alles.
Flemming E. Rasmussen erfüllt sich mit den Gryphon-Produkten („a lifelong dream“) einen lebenslangen Traum. Mich hat er in seinen Traum hineingezogen: Der Diablo 120 erfüllt tatsächlich meine hochgesteckten Erwartungen und ist damit nicht nur für den Moment, sondern für die wichtigen Stunden im Leben wie geschaffen. Ein größeres Lob kann ich nicht aussprechen. Mehr Verstärker als dieses „doppelte Tagesthema“ brauche ich nicht.
Gryphon Diablo 120 Vollverstärker
Leistung (8/4/2 Ω): 2 x 120/240/440 W
Eingänge analog: 1 x Hochpegel symmetrisch (XLR), 4 x Hochpegel unsymmetrisch (Cinch), davon 1 x Phono optional
Eingänge digital (mit optionalem DAC-Modul): 2 x S/PDIF (koaxial BNC und optisch), 1 x AES/EBU, 1 x USB
Kompatible Digitalformate: via USB PCM bis max. 384 kHz/32 bit, „native DSD“ (DoP) bis DSD128 (derzeit nur mit Windows OS); via BNC, S/PDIF, AES/EBU: max. 192 kHz/32 bit
Besonderheiten: optional mit D/A-Wandlermodul 120 (4050 €) oder Phono-Modul PS2 (2200 €) erweiterbar, vollsymmetrischer Dual-Mono-Aufbau, keine Über-alles-Rückkopplung, relaisgesteuerte Lautstärkeregelung in 48 Stufen, vielfältig konfigurierbar, Fernbedienung, Standby-Verbrauch < 0,5 W
Ausführung: Schwarz
Maße (B/H/T): 48/17,5/42 cm
Gewicht: 26,2 kg
Garantiezeit: 3 Jahre
Preis: ab 10 600 €
Mitspieler
Plattenspieler: TW Acustic Raven GT
Tonarme: DBL The Wand Master 9.5, Thomas Schick Berlin 9.6
Tonabnehmer: Grado Statement Reference S1, Ortofon Windfeld Serie 1
Phonovorverstärker: Whest Three Signature
DACs: Luxman DAC-06
Bridge: Moon MinD mit TIDAL HiFi
Vorverstärker: McIntosh C1100
Endstufe: McIntosh 275 Mk6
Lautsprecher: Thiel CS 3.7
Kabel: Graditech, HMS, Van den Hul
Stromversorgung: PS Audio, Dectet
Zubehör: Tabula Rasa Lowboard, Dereneville