Technics SL-1200GAE – I Will Survive
Wie retro kann ein digitaler Weltkonzern sein? Lässt sich Spirit klonen? Ein innerer Dialog
Das ist kein DJ-Arbeitsgerät. Sonst hätte Technics ja wohl zwei SL-1200GAE plus Mixer geschickt. Außerdem sind 7000 Euro (3500 mal zwo) mehr, als in einer durchschnittlichen Kneipe die gesamte Soundanlage kosten darf. Aber damit noch nicht genug, er hat eine silberne, zehn Millimeter dicke Topplatte aus Alu und weist schon mit der 1200 (statt 1210) im Namen auf den Heimgebrauch hin. Kein Club will silberne Plattenspieler, da sieht man doch jeden Glasabdruck. So weit das Urteil von Agent 00 Soul zur Wiedergeburt des legendärsten Direkttrieblers der HiFi-Geschichte. Manche erinnern sich vielleicht an mein cooles schwarzes Alter Ego und eines seiner mittlerweile schon länger zurückliegenden, aber nach wie vor stilprägenden DJ-Sets. Man erkannte ihn leicht am gewaltigen Afro, der am Ende einer langen Nacht gerade noch eben aus einem Berg zugeworfener Schlüpfer herauslugte – zu schade, dass ich bei Sonnenaufgang wieder bleich werde und die krause Frisur sich invertiert.
Jedenfalls hat der ungekrönte König der Wheels of Steel, wie 1210er in DJ-Kreisen auch genannt werden, nicht ganz unrecht. Schielte man bei Panasonic auf den DJ-Markt, wäre der SL-1200GAE in mancherlei Hinsicht anders geraten. Seit dem Ende des 1210ers war die Konkurrenz nicht untätig: Mittlerweile gibt es eine Reihe Pro-DDs, die besser, individueller auf die Bedürfnisse von DJs abgestimmt sind. HipHop-MCs bevorzugen wegen des geringen Gewichts und gerader Tonarme die Plastikbomber von Vestax (seit 2014 auch nicht mehr in Produktion). Der neue 1200 hat dagegen ordentlich zugenommen, wobei man ihm sein Gewicht von 18 Kilo nicht ansieht und die Mehrpfunde sich an durchaus klangrelevanten Stellen angesetzt haben. Elektronische DJs sind mit Stanton, Reloop oder sogar Numark zufrieden, da sie ohnehin meist mit Time-Code-Vinyls auflegen. Darüber hinaus bieten diese Klone eine Pitch Control bis 50 Prozent, wohingegen sich der 1210er mit mickrigen 8 Prozent begnügte. In diesem Punkt hat Technics (schon mit dem nicht sehr weit verbreiteten 1210M5G) behutsam nachgezogen: Über einen Verdopplungsbutton lässt sich die Pitch Control auf 16 Prozent ausweiten. Das war – zumindest beim 1210Mk2 – zwar vorher auch schon möglich, aber dazu musste man den Dreher öffnen und ein blaues Plastikpoti justieren. Einerseits kann ich die Enttäuschung des Doppelnull-Agenten, aus dessen Sicht sich nichts geändert hat, nachvollziehen, weil zwei 1200GAE zusammen mit den Goldketten und dem gewaltigen Afro die zulässige Achslast seines kanariengelben Maserati Ghibli von 1972 übersteigen, andererseits freue ich mich über dieses sensationellste Comeback seit Bobby Ewing wie ein Zehnjähriger über sein erstes Mobiltelefon, obwohl ich Pitch Control, Drehmoment-Regelung und eine Hochlaufzeit von 0,7 Sekunden so nötig habe wie eine digitale Lautstärkeregelung am Röhrenverstärker.
Dass Technics am Design des 1200/1210Mk2 festhielt, ist nicht besonders originell oder mutig. Aber warum sollten die Japaner ihre ikonografische DJ-Optik den Epigonen überlassen? Letztlich hätte ich zwar eine Anlehnung an das Design des Ur-1200, des Laufwerks, das die ersten HipHop-DJs aufgrund seines schnell anlaufenden Direktantriebs und seiner Unverwüstlichkeit einst für sich entdeckten, noch pfiffiger und geschichtsbewusster gefunden, aber diese Meinung kann Agent 00 Soul wiederum so gar nicht teilen. Und auch ich, wenn ich ganz ehrlich zu Ihnen bin, höre, seit der SL-1200 im Rack steht, Stimmen in meinem Kopf. Sie sagen: „Meins, meins, meins …!“
Lassen Sie mich versuchen – auch wenn es schwerfällt – den Zwölfhunderter nicht als das zu betrachten, was er darstellt, sondern als das, was er sein möchte: Ein HiFi-Plattenspieler mit hervorragendem Klang dank überlegener Technik. Das Antriebsprinzip des elektromagnetischen Direktantriebs mit eisenkernlosem Stator orientiert sich durchaus an Entwicklungen, die Technics schon vor 30 Jahren nutzte, um das Polruckeln zu minimieren. Aber die Erfahrung lehrte uns, dass ein durch rigorose Quartzregelung nahezu schwankungsloser Gleichlauf noch lange keinen guten Klang garantiert. Auch der im Jahr 2010 eingestellte 1200 litt aus meiner Sicht darunter, trotz bester Verarbeitung und überragender technischer Werte, klanglich im HiFi-Sinne auch mit einfachen riemengetriebenen Laufwerken nicht mithalten zu können. Er zog einen nicht in die Musik, sondern hielt immer nüchterne Distanz aufrecht. Diesen Ansatz – solange man ihn nicht nachweisen kann, muss man ihn wohl psychoakustisch nennen – nimmt Technics ernster als die meisten Fans der Marke. Eine Reihe von Neuentwicklungen zielt letztlich darauf ab, den 1200GAE besser klingen zu lassen.
Mittels optischer Positionskontrolle generiert die Mikrocontroller-Regelung eine, wie Technics das formuliert, „sanfte“ Antriebsspannung. Die mitgelieferte Sinuskurve verläuft im Vergleich zum 1200Mk2 tatsächlich fast perfekt gleichförmig. Polruckeln werde von diesem elektronischen Sinuswellengenerator völlig unterdrückt, behauptet Technics stolz. Zudem werden Mikro-Umdrehungsvibrationen des kernlosen Antriebs durch einen Zwillingsrotor minimiert, das reduziert die Belastung für das Lager und erhöht gleichzeitig das Drehmoment.
Und wenn schon, die Hochlaufzeit hat sich nicht verkürzt, wo soll also die Verbesserung sein?, fragt der Master of Ceremony, den nur ich Doppelnull nennen darf, und vergisst dabei, dass der Teller des neuen 1200 mit 3,3 Kilo gut doppelt so schwer ist wie der des Vorgängers. Sogar schwerer als der des Technics SP-10Mk2, des robusten Rundfunklaufwerks, das überdies im Drehmoment hinter dem neuen 1200 zurückbleibt. Auf den SP-10Mk3 möchte ich hier nicht eingehen, in freier Wildbahn habe ich noch keinen gesehen. Aber auf die Daten des SP-10Mk4 bin ich gespannt. (Hallo Panasonic, ein Wink mit dem Zaunpfahl!)
Ich vermute, dass sich an der Basis des Plattentellers nichts geändert hat, warum auch? Allerdings erhielt er eine massive, mit vier Schrauben fixierte Messingscheibe obenauf und Gummibedämpfung an der Unterseite, wo ein Aufkleber mit der Aufschrift „Balanced“ auf dessen Feinwuchtung hinweist. Dafür spricht mein Gefühl, dass der Plattendorn kürzer, der Teller also bei gleicher Lagergeometrie dicker zu sein scheint; dagegen jedoch die Behauptung von Technics, alles neu konstruiert und auf einem neuen Maschinenpark gefertigt zu haben. Außerdem kursieren in DJ-Kreisen anhaltende Gerücht darüber, dass 1210er der letzten Baureihe(n) nicht mehr so präzise verarbeitet waren, was als Indiz für verschlissene Gussformen gedeutet wird. Mir ist so etwas allerdings noch nicht aufgefallen. Für den 1200GAE gilt: Sein Verarbeitungsniveau ist mit günstigen Klonen nicht vergleichbar; kundige Finger ertasten das sofort, insbesondere am Lager des Tonarms.
Den Tonarm des alten 1200 muss man wohl absolut betrachtet als weltbesten Tonarm ansehen. Was diese Teile über Jahrzehnte an Misshandlungen mitgemacht haben, erzählen sich andere Arme als Schauermärchen. Aber klanglich galt der günstige Arm nie als besonders begabt. In heimischen Anlagen wurde er früher deshalb gerne durch einen SME 3009 ersetzt. So locker am neuen Arm des auf 1200 Stück limitierten Sondermodells vorbeizuziehen dürfte schwierig werden. Der immer noch S-förmige Arm ist Bombe!
Weil Panasonic das analoge Technics-Erbe offenbar voreilig entsorgt hatte, musste Frau Osawa mit vielen Verbeugungen um die Unterstützung von Nagao Tamagawa bitten – der Ingenieur war in den Siebzigern sowohl an der Entwicklung des Direktantriebs als auch des Tonarms beteiligt. Der mittlerweile Neunzigjährige sagte nicht nur unter einer Reihe von Verbeugungen zu, sondern führte in dem durchdigitalisierten Konzern auch verloren gegangenes feinmechanisches Qualitätsbewusstsein wieder ein, so erzählt es zumindest ein Firmenvideo. Heartwarming nannte es Agent 00 Soul mit spöttischem Unterton.
Vor diesem Hintergrund verwundert es wenig, dass sich konstruktiv nichts verändert hat. Aber in der Materialqualität: Das kaltverformte Magnesiumrohr des Arms hängt an vier Punkten in hochpräzisen 2-mm-Kugellagern und läuft wunderbar leicht und spielfrei. An der Basis ist er über ein komfortables Feingewinde höhenverstellbar und selbstverständlich immer noch statisch ausbalanciert. Es handelt sich um einen leichten Arm (genaue Daten habe ich leider nicht zur Verfügung), der bestens mit hochwertigen MM-Systemen harmonieren sollte. Technics führt gerne und vermutlich nicht ganz zufällig mit einem Ortofon 2M Black vor. Es passt optisch perfekt zur schwarzen Headshell und läuft am neutralen Laufwerk zu Höchstform auf. Ich hoffe inständig, dass sich die Gerüchte aus dem Netz bewahrheiten und der Arm auch im Standard-1200G erhalten bleibt. Gleiches gilt für die in jede Richtung um ca. 45 Grad schwenkbaren, vorzüglich dämpfenden Silikongel-Gummi-Füße – eine konstruktive Meisterleistung! Von Seiten des Herstellers besteht hier offenbar (noch) eine Info-Sperre; möglicherweise wissen Sie bei Erscheinen dieser Ausgabe schon mehr als ich derzeit.
Ohne Haube, die immer noch die charakteristische Ausbuchtung über dem Kardanlager des Tonarms aufweist, braucht der 1200GAE nicht viel Platz. Bremst man den Teller am Rand leicht ab, spürt man die höhere Masse und den kräftigen Antrieb durchaus, beim Cueing fühle er sich aber nicht beeinträchtigt, meint der Doppelnull-Agent der Soulmusic. Beatlastige elektronische Musik stellt naturgemäß für einen stabilen Direkttriebler keine Herausforderung dar. Die echte Qualität eines Laufwerks zeigt sich bei Musik, die nach Ausdruck verlangt, die Melodie und Interpret in den Vordergrund stellt – nicht eben Paradedisziplinen des alten 1200. Die Animals klingen auf einer Teldec-Compilation ein wenig blechern und mittenbetont, das gehört dazu, aber Eric Burdons Stimme klingt auch erstaunlich energisch, die räumliche Staffelung in die Tiefe ist klar nachvollziehbar. Der hätte ein echter Soul-Brother werden können, wenn seine Kapelle nicht jeden Offbeat exakt betonen würde, doziert Agent 00 Soul. Ich verabscheue seine standrechtlichen Urteile nach dem immer gleichen Schwarz-Weiß-Schema, aber recht behält er meistens doch. Also Vollfettstufe mit Aretha Franklin in jungen Jahren: „Ac-cent-tchu-ate The Positive“ – aber gerne. Die hervorragende großformatige Aufnahme präsentiert eine 20-jährige Franklin, deren Stimme voluminös und voll ausgebildet ist, aber noch nicht die dunkle Färbung der Abgeklärtheit zeigt, sondern jugendlich-stürmisch unbeschwert swingt. Feingefühl wird hier von der Wiedergabekette gefordert, Hingabe, Empathie und Freude an Musik. In solchen Momenten zeigt der 1200GAE, wie grundlegend er sich von einem schnöden Disco-Dreher unterscheidet. Er ist profund und tief im Bass, löst in den Mitten fein auf und präsentiert Höhen seidig statt schneidend. Dabei klingt er weder nach eilfertigem Brettspieler noch nach stämmiger Masse. Seine nüchterne Übersicht erinnert bisweilen an die gestrenge Ordnung eines Brinkmann Oasis, ohne jedoch dessen Dynamik und Hintergrundschwärze zu erreichen.
Ich hatte vor diesem Test ein paar Bedenken. Wie objektiv kann man den Nachfolger eines unsterblichen Klassikers beurteilen, wenn er ein Vielfaches kostet? Aber der Technics SL-1200GAE – das Kürzel steht übrigens für die Grand (Class) Anniversary Edition zum 50-jährigen Firmenjubiläum – macht es mir leicht: Er lässt seinen Vorfahren wie alle seine Epigonen weit hinter sich. Bei aller Unbestechlichkeit erlaubt er sich, an der Musik Anteil zu nehmen, sie nicht nur zu präsentieren, sondern zu zelebrieren. 3500 Euro sind ein stolzer Preis, trotzdem soll das limitierte GAE-Modell schon ausverkauft sein. Bleibt zu hoffen, dass der Standard-1200G nicht weniger hervorragend ist, dafür aber etwas günstiger.
Was redest du, Bro?, mischt sich Agent 00 Soul ein. Es gibt 1210er, die seit 20 Jahren in dunklen Kaschemmen stehen, nie Sonnenlicht oder einen Tropfen Öl gesehen haben, und wenn du sie einschaltest, kann es sofort losgehen. Komm schon, Buddy, wir verkaufen den Maserati und holen uns dafür zwei SL-1200G und einen Hubwagen!
Plattenspieler Technics SL-1200GAE
Funktionsprinzip: direktgetriebener Plattenspieler
Drehzahlstufen: 33/45/78 U/min
Drehzahlregelung (Pitch Control): bis zu ±18 %
Anschlüsse: Phono-Ausgang (Cinch), Erdungsklemme
Besonderheiten: Direktantriebsmotor mit Zwillingsrotor, neuentwickelte Motorregelung, hochempfindlicher Tonarm, Plattenteller mit Messingauflage, spezielle Vibrationsabsorber
Maße (B/H/T): 45/17/37 cm (inkl. Staubschutzhaube)
Gewicht: 18 kg
Garantiezeit: 2 Jahre
Preis: 3500 €
Panasonic Deutschland
Winsbergring 15
22525 Hamburg
Telefon 040 85490