Pass INT-60 – Nelsons Offenbarung
Zwei Schritte vor, aber keinen zurück: Die jüngste Evolutionsstufe hebt den „kleinen“ Vollverstärker von Nelson Pass auf ein sagenhaft hohes Niveau.
Ein Vollverstärker ist eine verdammt feine Sache. Für die Vereinigung von Vor- und Endstufe(n) spricht so einiges, zum Beispiel, dass ein einziges Gehäuse erheblich weniger „Verpackung“ und somit auch Kosten verursacht als zwei (oder drei). Vorteilhaft ist auch, dass der Entwickler beim Integrierten genau weiß, dass Endstufe und Vorstufe bestens miteinander harmonieren; er hat diese beiden Komponenten schließlich selbst miteinander verknüpft.
Die Hauptargumente gegen einen integrierten Verstärker sind allgemein bekannt, in der Praxis aber oft bedeutungslos. Gegenseitige Beeinflussungen der einzelnen Sektionen innerhalb eines Gehäuses sind – einen ordentlichen Entwickler vorausgesetzt – vermeidbar. Und dass Vor- und Endstufe nicht beliebig zusammengestellt werden können, ist für die meisten Musikhörer nicht wirklich entscheidend. Mal ehrlich: Wie oft haben Sie nach dem Erwerb der ach so tollen Endstufe die Vorstufe getauscht, um die ganze Sache mit dem Kauf von Wahnsinns-Monos sogleich von Neuem zu beginnen?
Wer also weniger an seinen HiFi-Gerätschaften herumspielen, stattdessen mit ihnen lieber Musik genießen will, wird einen Vollverstärker häufig als die bessere, weil kompaktere, leichtere und wohl auch kostengünstigere Lösung favorisieren. Und damit bin ich auch schon beim Testkandidaten angekommen, der sich auf den ersten Blick als schlichter Vollverstärker tarnt. Allerdings ist der neue Pass INT-60 weder kompakt noch leicht, sondern von beeindruckender Physis. Seine Verpackung erinnert mich stark an die Größe meiner Autos zu Studentenzeiten, und schon beim ersten Versuch, die zentnerschwere Kiste anzuheben, beschließe ich, ab sofort nur noch Kopfhörer zu testen.
Dank zweier netter Nachbarn verteilt das Verstärkermonument seine 42 Kilo nun auf einem Viertelquadratmeter Standfläche – eine echte Ansage. Eine stabile Unterstellfläche war ebenso obligatorisch wie eine gute Belüftung, da auch der INT-60 nach Art des Hauses einen nicht unerheblichen Teil der Stromzufuhr nonchalant in Wärme umwandelt. Wer noch nie mit Produkten von Verstärker-Guru Nelson Pass in Berührung gekommen ist, wird kaum glauben, dass der INT-60 noch locker als veritable Einsteigerofferte von Pass durchgeht. Dabei hat das Schwergewicht auch schaltungstechnisch einiges zu bieten. Immerhin sieben Jahre hat sich Pass Zeit gelassen, um die weltweit gerühmte X.5-Schaltung durch die neue X.8-Serie zu ersetzen. Eine der wesentlichen Weiterentwicklungen betrifft die Stromversorgung: Sie ist nun beträchtlich stärker ausgelegt und lässt schon anhand von Größe und Gewicht erkennen, dass hier nicht gekleckert wurde. Während die Preamp-Sektion im INT-60 weitgehend derjenigen im Vorverstärker XP-10 entspricht, basieren die Endstufen auf den neuen Monoblöcken XA-60.8. Die Leistung des in wirklich jeder Hinsicht perfekt verarbeiteten INT-60 gibt Pass mit 60 Watt an 8 Ohm an, mit einem hohen Class-A-Anteil von 30 Watt. An 4 Ohm liefert der Amp glatt die doppelte Leistung, und ganz grundsätzlich darf man getrost davon ausgehen, dass es sich hierbei um gesicherte Mindestdaten handelt.
Zwei der vier Hochpegel-Eingänge verfügen über eine Doppelbelegung mit Cinch- und XLR-Buchsen, von denen aber jeweils nur eine Anschlussvariante gleichzeitig benutzt werden darf, die beiden weiteren Eingänge sind allein mit Cinchbuchsen bestückt. Darüber hinaus gibt es zwei Vorverstärker-Ausgänge – wieder mit Cinch- und XLR-Buchsen – zur Ansteuerung von aktiven Subwoofern oder weiteren Verstärkern, um etwa Bi-Amping zu realisieren. Die sehr guten Lautsprecher-Anschlussklemmen akzeptieren Gabelschuhe, Bananenstecker und blanke Kabelenden, zudem sind sie mit drehmomentbegrenzten Schraubklemmen von Furutech ausgestattet, die eine Beschädigung durch allzu starkes Anziehen zuverlässig verhindern.
Wesentliche Funktionen des Verstärkers sind mit der beiliegenden Fernbedienung steuerbar. Schade finde ich nur, dass die große numerische Lautstärkeanzeige nicht abgeschaltet werden kann; eine entsprechende Funktion würde das dezent blau beleuchtete runde Messinstrument in der Mitte der Frontplatte noch ein bisschen besser zur Geltung bringen! Dafür zeigt das LED-Display die gewählte Lautstärke, deren Regelung in Dezibel-Schritten von 0–63 möglich ist, auch in größerer Entfernung noch sehr gut lesbar an. Die Regelung ist sowohl über die Fernbedienung als auch über den großen und satt laufenden Pegelsteller am Gerät außerordentlich fein und gleichmäßig möglich.
Jedes Gerät besitzt ein individuelles, unterzeichnetes Prüfprotokoll und durchlief bei Pass in den USA umfangreiche Tests, bevor es ausgeliefert wurde. Dennoch sollten Sie Ihrem INT-60 unbedingt eine mindestens 150-stündige „Einbrennzeit“ gönnen; der Verstärker legt in dieser Phase klanglich noch einmal enorm zu. Danach genügen rund 60 Minuten nach jedem erneuten Einschalten, bis das Gerät nicht nur wortwörtlich, sondern auch hörbar warmgelaufen ist. Ein Schalter auf der Front, wahlweise auf der Fernbedienung, kann den INT-60 auf Standby setzen, was den Stromverbrauch auf unter 0,5 Watt drückt. Auf der Rückseite gibt es zudem einen „harten“ Schalter, der das Gerät komplett vom Netz trennt.
Versorgt wird der neue kleine Pass-Spross bei mir via HMS Energia Suprema und Energia Definitiva, als Quelle kommt der AcousticPlan Vadi zum Einsatz, als Lautsprecher mein Pärchen Odeon No. 38. Die Lautsprecher sind extrem gutmütig und spielen beispielsweise mit meiner Air Tight ATM 300 fantastisch gut zusammen. Nicht zuletzt deswegen bin ich sehr gespannt auf den Pass; vielleicht kann er manches ja noch ein bisschen besser …
Ich werde nicht enttäuscht: Bereits nach wenigen Minuten wird deutlich, welchen Klangcharakter und welche tonale Auslegung Pass hier verfolgt. Der INT-60 baut seinen Klang aus einem tiefen, zugleich extrem leichtfüßigen, geradezu federnden und außerordentlich „lebendigen“ Bass auf, zudem präsentiert er röhrenähnliche Mitten, aber ohne eine – vielen Röhren ohnehin zu Unrecht nachgesagte – künstliche „Wärme“. Darüber hinaus zeigt er eine wunderbar differenzierte, niemals nervige oder ins Harsche driftende Höhenwiedergabe. Dieser Amp ist tonal verführerisch gut ausbalanciert.
Die brandneue CD von Angelika Niescier und Florian Weber heißt NYC Five (Intakt Records, CD 263) und scheint wie gemacht zu sein für die einnehmende Kraft, die straffe Kontrolle des INT-60. Die polnische Altsaxofonistin spielt hier als Bandleaderin mit dem Pianisten Florian Weber und drei der angesagtesten Musiker aus New York zusammen: dem Trompeter Ralph Alessi, dem Schlagzeuger Tyshawn Sorey und dem fantastischen Bassisten Christopher Tordini. Der zeitgemäße Jazz des Quintetts bietet Big-Apple-Atmosphäre pur: kühne Arrangements mit ineinander verschachtelten Themen, mutige Rhythmusstrukturen, überraschende und ideenreiche Soli.
Ich muss gestehen, dass ich zunächst ein wenig Bedenken hegte, den Pass an meinen Odeons einzusetzen. In der Vergangenheit hatte sich häufig gezeigt, dass diese effizienten Lautsprecher an kräftigen Verstärkern musikalisch eher schwächer spielen. Nichts dergleichen mit dem INT-60. Selbst im „einstelligen“ Lautstärkebereich bietet er Dynamik pur und eine fast schon fühlbare, unnachgiebige Kraft und Kontrolle. Hinzu kommt eine unglaubliche „Stille“. Damit ist nicht nur die musikalisch wertvolle innere Ruhe gemeint, die der Verstärker offenbar in jedem Pegelbereich locker und großzügig dimensioniert abrufen kann, sondern auch die rein technische: Der INT-60 ist dermaßen nebengeräuscharm, dass selbst über die Hörner der Odeon kein Rauschen wahrzunehmen ist. Sehr sympathisch! Wer mag schon Grundrauschen oder noch schlimmere Geräuschkulissen? Jedes vermeidbare Störgeräusch entfernt weiter von der Musik. Der Pass hingegen bringt mich näher an sie heran.
Gleich das erste Stück der CD, „The Barn Thing“, meistert der INT-60 dynamisch treibend und tonal ausgesprochen intensiv. Hier stimmt sofort alles: die tollen Harmonien, die tief in der Gruppe verwurzelte Dynamik, der musikalische und auch produktionstechnische Raum für Soli, die den Fluss der Musik nicht bremsen, sondern wie die Frischluftzufuhr in einem Kamin noch anfeuern. Nachdem ich mich bei dem Gedanken ertappe, dem Verstärker, der musikalisch zweifellos auf höchstem Niveau spielt, nun auch seine scheinbar unbegrenzte Leistung abzufordern, erzeuge ich mit dem INT-60 Originallautstärken. Und das nicht nur einmal. Wirklich beeindruckend! Dieser leichtfüßige und zugleich fesselnde Bass, diese bis hinauf in die unteren Mittenlagen fulminanten und fließenden Klangfarben zeigen, welche prinzipbedingten „Leistungsnachteile“ etliche Röhrenverstärker, insbesondere Trioden, einfach haben. Selbst als hartgesottener Glaskolbenfan muss ich gestehen: Der Pass INT-60 kann Röhrenfans nicht nur mit dem Transistor versöhnen, sondern sogar richtig nachdenklich stimmen.
Ismo Eskelinen nahm seine Solo-CD Bach (Alba Records Oy, 2012) mit einer Gitarre von Fratelli Lodi auf. Die vorzügliche Einspielung mit eigenen Arrangements Bach’scher Werke für Gitarre stellt jede Wiedergabekette vor eine echte Aufgabe. Nur wenn alle Teile ein gemeinsames musikalisches Ziel verfolgen, passiert es: Der Zuhörer wird in die hypnotisch wirkenden Läufe hineingesogen, ja die Fingerfertigkeit des Ausnahmegitarristen mag in einigen Passagen fast schon zu leichten akustischen Schwindelanfällen führen. Doch der Pass schafft es – für mich als erster Vollverstärker seit vielen Jahren –, die Musik so wiederzugeben, dass eindeutig erkennbar wird: Diese unglaubliche Vielfalt von Tönen und musikalischen Strukturen wird tatsächlich von nur einem Musiker erzeugt. Selbst wesentlich teureren Vor-/Endstufen-Kombis gelingt das in der Regel nicht; oft genug vermitteln sie den Eindruck, hier würden entweder zwei Musiker spielen oder mehrere Tonspuren zusammengelegt. Der INT-60 hingegen lässt an der phänomenalen Virtuosität des Solisten keinerlei Zweifel aufkommen und erzeugt einen wunderbaren, emotional berührenden Musikfluss; Töne gehen harmonisch ineinander über, werden verbunden, aber nicht vermischt. Die akustisch überaus klare, höchst differenzierte Wiedergabe des Pass nötigt mir ein weiteres Geständnis ab: Ein solches Erlebnis hätte ich in dieser Deutlichkeit von einem Vollverstärker nicht für möglich gehalten. (Und erst recht nicht von einem, in dem keine Röhren eingesetzt werden.)
Dann spielt Daniel Barenboim Mendelssohns Lieder ohne Worte. Die Aufnahme des noch jungen Barenboims von 1974 schafft einen wundervollen Zugang zu diesen kleinen Klavierstücken. Sie sind eigentlich für einen Hammerflügel gedacht, hier aber mit dem ausladenden Klang eines modernen Konzertinstruments eingespielt, und über den Pass INT-60 wird der Wunsch des Musikers, die Stücke schweben zu lassen, unmittelbar spürbar. Barenboim, der sein ganzes Leben lang seinen eigenen wahren Klang suchte, wird durch den „kleinen“ Pass-Verstärker bei der Umsetzung seiner musikalischen Vorstellungen und seines interpretatorischen Konzepts wunderbar unterstützt. Die Wiedergabe, oder sollte man sagen, die immer wieder neue Belebung über den INT-60 setzt schlichtweg Maßstäbe – diese unglaubliche Fähigkeit, einzelne Töne zu einem neuen, übergeordneten musikalischen Ganzen zusammenzufügen! Bei dieser Mendelssohn-Aufnahme ist nicht nur die Trennung zu Schubert wahrzunehmen, sondern auch wie Mendelssohn, nicht zuletzt in den Stimmungen, auf Schumann anspielt. Dem Pass gelingt es, Ähnliches wie Trennendes, Abgrenzung wie Annäherung in der Musik erlebbar zu machen, ja er scheint geradezu die technische Entsprechung für die Umsetzung der für Mendelssohn so wichtigen Einflüsse Natur und Natürlichkeit zu sein. Mit dem INT-60 trifft hier perfekte Verstärkerkunst auf Musik aus der Epoche der Romantik, aus dem Europa um 1840 – und sie gehen mit jedem Ton eine innige Verbindung ein, die dem Zuhörer das Kulturgut und die Ästhetik klassischer Musik mit fast schon brutaler Deutlichkeit hör- und erlebbar macht.
Mein Fazit? Der jüngste Geniestreich von Nelson Pass zeigt erneut, warum der einzigartige und musikbesessene Entwickler völlig zu Recht auf dem High-End-Olymp seinen Platz gefunden hat. Der Wunsch nach weiteren Optimierungen kommt schlichtweg nicht auf. Oder kürzer: Der Pass INT-60 ist nichts weniger als eine Offenbarung für Musikbegeisterte!
Jede HiFi-Komponente belohnt intensive Fürsorge mit besserem Klang – die eine mehr, die andere weniger. Wie viel Belohnung ist beim Pass INT-60 zu erwarten?
Während mechanisch empfindsame (Röhren-)Verstärker eine sorgfältige Aufstellung meist deutlich hörbar honorieren, reagiert der Pass INT-60 dank seiner grundsoliden „Geradeaus“-Konstruktion auf unterschiedliche Stellflächen vergleichsweise souverän. Natürlich ist es dennoch empfehlenswert, den Amp auf eine resonanzarme (und belastbare) Basis zu stellen. Auf einer Subbase Audio, Quadraspire (X-Reference) oder Solidsteel (HS) etwa, die sich bei uns bestens bewährt haben, klingt der US-Amp in jedem Fall besser als auf einem x-beliebigen Regal. Wichtiger jedoch ist dem „kleinen“ Pass ausreichend Luft zum Atmen, denn auch der INT-60 bevorzugt aus thermischen Gründen ein eher offenes Plätzchen.
Dass Zuspieler und Schallwandler von erstklassiger Qualität sein sollten, versteht sich in dieser Liga von selbst, Gleiches gilt für die Verkabelung. Sehr gute Erfahrungen machten wir mit hochklassigen Kabeln von Shunyata und AudioQuest, aber auch mit Audio Note, HMS, QED und Vovox. Unbedingt sollte man das Standard-Netzkabel austauschen, sonst bleibt ordentlich Klangpotenzial auf der Strecke. Sehr empfehlenswerte Netzkabel kommen von Shunyata und IsoTek, eines der allerbesten – und nicht nur der Favorit von Autor Claus Volke – ist das HMS Energia Suprema. Die „richtige“ Netzphase für den Pass-Vollverstärker ist übrigens relativ leicht heraushörbar – und kostet außer ein paar Minuten Zeit keinen Cent.
Cai Brockmann
Vollverstärker
Pass INT-60
Funktionsprinzip: Stereo-Transistor-Vollverstärker
Leistung (8/4 Ω): 2 x 60/120 W
Eingänge: 4 x Hochpegel unsymmetrisch (Cinch), davon 2 auch symmetrisch (XLR) ansteuerbar
Ausgänge: 1 x Lautsprecher (Schraubklemmen), 1 x Preamp out symmetrisch (XLR), 1 x Preamp out unsymmetrisch (Cinch)
Besonderheiten: großer Class-A-Bereich, Fernbedienung
Ausführung: Front Aluminium, Gehäuse schwarz
Maße (B/H/T): 48,3/19,3/55 cm
Gewicht: 42 kg
Garantiezeit:5 Jahre
Preis: 11 750 €