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Audes Maestro 116 Lautsprecher

Audes Maestro 116 Lautsprecher

Audes Maestro 116 – Erweckungshelfer

Sagen Sie nicht, wir hätten Sie nicht gewarnt: Ein neuer Lautsprecher aus Estland kann Ihnen den Schlaf rauben und sorgfältig errichtete highfidele Vorurteilsgebäude zum Einsturz bringen.

Audes Maestro 116 Lautsprecher

An den 20. September 2016 werde ich mich noch lange erinnern: Ich war mittags in Berlin-Tegel gelandet – nach einem endlosen Nachtflug von Dallas über Frankfurt. Hinter mir lagen 14 Stunden Reise, vor mir lag die Aussicht auf lange Arbeitstage mit üblem Jetlag. Nun heißt es ja in Vielfliegerkreisen, man solle sich so bald als möglich auf die Zeit am Ankunftsort einstellen und nicht dem ersten Impuls, sich um 13 Uhr ins Bett zu hauen, nachgeben. Gesagt, getan: Ich wankte mürbe und bräsig durch meine Wohnung und überlegte, was ich bis zum Sonnenuntergang noch Sinnvolles tun könnte. Gar nicht so leicht, wenn das Hirn eine Schüssel Grütze ist und der Körper sieben Stunden Zeit- und 25 Grad C Temperaturdifferenz zu bewältigen hat. Nachdem ich meine Koffer ausgepackt und die Waschmaschine befüllt hatte, erblickte ich im Flur einige Kartons. Ach ja, die neuen Probanden aus dem Hause Audes, die des Auspackens und Verkabelns harrten. Perfekt – genau die richtige Tätigkeit für einen Tag, der sich eigentlich schon versendet hat.

Neben den sauber verpackten, knapp einen Meter hohen Zweiwege-Säulen lieferte mir der Vertrieb noch einen dritten Karton mit Standfüßen. Dann war erst einmal Handarbeit gefragt: Die Lautsprecher vorsichtig kopfüber aus den Kartons gleiten lassen, Standfüße und Spikes verschrauben, dann die Lautsprecher drehen und abermals vorsichtig auf die mitgelieferten Spiketeller stellen, und dann noch Strippen zur Endstufe ziehen – so hatte ich schon einmal eine gute Stunde sinnvoll und schweißtreibend verbracht. Ich sank zufrieden aufs Sofa und ließ „Neighborhood #2“ von The Arcade Fire laufen. Hilfe! Was war das denn?

Audes Maestro 116 Lautsprecher

Innerhalb von drei Sekunden war ich wach. Es war, als würde die komplette Band in meinem Wohnzimmer aufspielen. Das prägnante Schlagzeugintro mit zitternder Raumakustik drückte mich tief ins Wohnmöbel, die Gitarren-Flageoletts schwirrten durch den Raum, das Akkordeon schlingerte mir trunken von halbrechts entgegen – und der nach 16 Takten einsetzende Bass ließ meine Magengrube kribbeln. Was für eine entfesselte Spielfreude, was für eine Dynamik, was für eine wunderbar straffe Wiedergabe. Und wie klar und rein das kleine Glockenspiel zur Linken pingte! Wie die Streicher, kleinen Nadelspitzen gleich, das Gehörte aufrauten! Das war schlicht und einfach fantastisch. Um es vorwegzunehmen: Ich saß den Rest des Tages selig auf dem Sofa, flippte erratisch durch meine Musiksammlung, ließ gegen 18 Uhr eine Pizza kommen und kippte mir anschließend zwei Gläser Ardbeg Mór hinter die Binde. Später, schon leicht angeluschert, schickte ich Cai Brockmann eine SMS und fragte nach dem Preis. „1600 (Paar)“ war die postwendend aufscheinende Antwort. Wie bitte? Wollte mich der immer zu einem Streich aufgelegte Chefredakteur foppen, dieser Fuchs, dieser Bajazzo, dieser Tausendsassa? Ich ging verwirrt ins Bett. Es war bereits nach Mitternacht!

Halbwegs ausgenüchtert und -geschlafen erst einmal etwas Historie und Fakten zu Audes und deren Produkten. Die Wurzeln von Audes – in Tallinn, Estland beheimatet – reichen zurück bis ins Jahr 1935. Man begann unter dem sperrigen Namen „Raadio-Elektrotehnika Tehas/RET“ mit der Herstellung von Rundfunktechnik: Spulen, Transformatoren und dergleichen, teilweise auch für militärische Zwecke. In den 50er Jahren kamen Röhrenradios, in den 60ern Kompaktanlagen mit Receivern und Plattenspielern hinzu – allerdings mit zugekauften Lautsprechern. 1992 wurde der Markenname in „Audes“ geändert, ein Jahr später begann man mit der Entwicklung und Produktion von Lautsprechern. Heute umfasst das Portfolio des Herstellers neun selbst entwickelte und hergestellte Tieftöner, diverse Transformatoren, drei Röhrenverstärker sowie mehrere Lautsprecherserien.

Audes Maestro 116 Lautsprecher

Bei mir zu Gast ist die Audes Maestro 116, ein vergleichsweise schlankes Zweiwege-Bassreflex-Modell mit sich leicht nach hinten verjüngendem Gehäuse. Die aus einem Kompakt- und zwei Standmodellen bestehende Maestro-Serie gibt es bereits seit einigen Jahren, sie wurde jedoch vom Akustikingenieur Aleksei Tjurin, dem Sohn des Audes-Eigentümers, überarbeitet; das Modell 116 war sein erstes abgeschlossenes Projekt. Verbaut sind ein Sechseinhalbzöller aus eigener Fertigung sowie ein exzentrisch platzierter Kalottenhochtöner von Seas; der Bassreflexkanal hat seine Öffnung auf der Frontseite, und zwar auf derselben Mittellinie wie der Hochtöner, also je nach Aufstellungsvariante einige Zentimeter nach links oder rechts versetzt. Ungewöhnlich niedrig ist die Trennfrequenz – bereits ab 950 Hertz übernimmt die Hochtonkalotte. Angesichts ihres geringen Volumens reicht die Audes herab bis zu erstaunlichen 40 Hertz (−3 dB). Der Wirkungsgrad ist mit 84 Dezibel durchschnittlich und die Sinusbelastbarkeit von 75 Watt ebenfalls keine besondere Überraschung für einen Lautsprecher dieser Größe.

Eines wird beim Blick auf eine solche Konfiguration bereits in der Theorie klar: Der Tieftöner kann sich tatsächlich recht ungestört auf seine Kernkompetenz konzentrieren, nämlich profund, satt und dynamisch aufzuspielen. Und weiß Gott, das tut er. Offen gestanden: Was absolute Tiefe, Kontrolle und Geschwindigkeit angeht, kann er sich nicht nur mit meiner ausgewachsenen Tannoy Turnberry (die das Vierfache kostet) messen, er scheint mir sogar fast noch etwas unmittelbarer zu Werke zu gehen. Andererseits hat der Hochtöner umso mehr „zu tun“, da er einen großen Teil des Mittenbandes abdecken muss, doch das schafft er tatsächlich mühelos. Die Seas-Kalotte spielt tendenziell mehr auf der crispen, hellen Seite – gleitet aber zu keiner Zeit ins Überspitze ab. Das ist gut zu hören bei „Chemicals“ von The Notwist: Hier klickern und britzeln allerlei synthetische, hochtonlastige Schallquellen um die Wette. Und in der Bridge hat die Weilheimer Band doch tatsächlich den guten alten Einwahl-/Handshakesound eines analogen Modems versteckt. Dieser setzt sich noch einmal klar von den quirlig-rhythmischen Hi-Hat-Klängen und Loops ab. Als – recht spät – endlich der Bass einsetzt, wird er akzentuiert, tief und rhythmisch eingebunden. Tolle Abstimmung!

Audes Maestro 116 Lautsprecher (35)

Was aber das Sahnestück dieses Lautsprechers ist: die sagenhaft tiefe und präzise Räumlichkeit im Gesamtbild. Man nehme die Chameleons mit „View From A Hill“ – was die verlorenen, disparaten Delaygitarren hier für einen Raum aufziehen: Man kann geradezu darin baden und versinken. Auch bei klassischer Musik lässt sich sagenhaft tief in den Raum hineinhören, was Orchesterwerke zu einem echten Genuss macht.
Schauen wir mal ein wenig nach links und rechts: Meine Tannoy kam bei Vergleichstests ganz schön ins Schwitzen: Nun ist sie kein Kind von Traurigkeit und ich habe sie seinerzeit auch unter anderem wegen ihrer explosiven Dynamik gekauft. Doch die „kleine Audes“ kann hier erstaunlich mühelos Schritt halten. Was die Tannoy besser kann: Sie hat mehr „Ruhe“ in den Mitten, bringt Gitarren, Klavier, Blas- und Streichinstrumente insgesamt mit etwas farbigerem, kräftigerem Pinselstrich zu Gehör. Das todtraurige „He Lives My Life“ der Go-Betweens mit seinen perlenden Akustikgitarren kann über die Tannoy noch mehr anrühren, mehr emotionalen Nachdruck produzieren. An den Frequenzgang-Enden hingegen überrascht die Audes mit frischer Transparenz im Hochton und pfeilschnellem Antritt im Bassbereich, zumindest wenn man bei Zimmerlautstärke und leicht darüber hört. Wenn es um Pegelfestigkeit über alles geht, hat dann wiederum irgendwann die Tannoy mehr Reserven; es ist ihr völlig gleichgültig, ob sie mit zehn oder 200 Watt beschickt wird. Die Audes fühlt sich eher in mittleren Lautstärkegefilden wohl, was aber bei den meisten Heimanwendern eh das Standardszenario darstellen sollte.
In ihrer Gesamtcharakteristik erinnert mich die Audes 116 an die vor einiger Zeit hier von mir getestete DeVore Gibbon 88, aber auch an die Neat Acoustics Momentum 4i, die ich mehrere Jahre lang als „Abhöre“ für Testzwecke nutzte und in guter Erinnerung habe. Der Unterschied: Beide genannten Vergleichsmodelle sind deutlich teurer.

Übrigens: Die Audes spielt an Röhren wie Transistoren gleichermaßen überzeugend. Eine mitreißende, dynamische und knackige Vorstellung gab sie mit dem Vollverstärker Accustic Arts Power I Mk4 und auch mit der der Endstufe Abacus Ampollo – hingegen eine etwas rundere, sonorere Performance mit meinen Röhrenmonos Audreal MS3. Das macht sie in der Praxis zu einem echten Allrounder.

Bringen wir es einmal auf den Punkt: Natürlich kann ein Lautsprecher zum Paarpreis von 1600 Euro nicht alles richtig machen. Wie bei jeder HiFi-Komponente gibt es eine Soll- und eine Habenseite; wie der Saldo aussieht, muss jeder für sich nach seinem persönlichen Geschmack entscheiden. Die überragenden Stärken, bei denen die Audes teilweise erheblich über ihre Preisklasse hinaus spielt, sind Timing, Räumlichkeit, Spielfreude, profunder Bass und glitzernde Höhen – dafür muss man deutlich über Zimmerlautstärke Kompromisse hinsichtlich der absoluten Pegelfestigkeit eingehen. Und das Mittenband gibt es woanders zuweilen besser aufgelöst, weiter gestreckt.

Für mich persönlich war jedoch klar: Die Audes macht so dermaßen viel Spaß und sie bietet einen willkommenen akustischen Gegenentwurf zu meiner Tannoy: Sie bleibt hier und wird gekauft. Basta!

Audes Maestro 116 Navigator

 

Lautsprecher Audes Maestro 116
Bestückung: 6,5″-Tieftöner, 1″-Hochtonkalotte
Funktionsprinzip: 2-Wege-Standlautsprecher, Bassreflex
Nennimpedanz: 8 Ω
Sinusbelastbarkeit: 75 W
Frequenzbereich: 40–20 000 Hz
Übernahmefrequenz: 950 Hz
Empfindlichkeit: 86 dB/W/m
Ausführungen: Echtholz/Walnuss oder schwarz lackiert, Sonderfurniere gegen Aufpreis
Maße (H/B/T): 99/20/27 cm
Gewicht: 17 kg
Garantiezeit: 2 Jahre
Paarpreis: 1600 €

 

www.tcg-gmbh.de
www.audes.ee

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