Such A Night
Illustration: Ralf Wolff-Boenisch
Mein Vater hatte sein Arbeitszimmer im ausgebauten Dachboden unseres Einfamilienhauses. Hier stand auch der Fernseher, ein altes Schwarz-Weiß-Gerät, das immer einige Minuten brauchte, um warm zu werden. Es war die Zeit der drei Programme. Die wenigen Sendungen, die ich sehen durfte, liefen am Vorabend: Der rosarote Panther, Männer ohne Nerven, Western von Gestern. Am Wochenende, als „große Ausnahme“, wie meine Mutter nie zu betonen vergaß, schauten alle zusammen mal einen frühen Spielfilm, Karl May oder Tarzan. Eines Abends aber rief mein Vater mich zu sich auf den Dachboden. Es war schon nach zehn. Er saß vorm Fernseher, klopfte auf den Platz neben sich. Ich sehe die Szene vor mir, als wäre sie gestern passiert. Warum ich plötzlich so spät noch fernsehen durfte, ich wagte nicht zu fragen.
Mein Vater war in jenen fernen Tagen nicht viel da, das ist eine andere Geschichte. Ich war zehn oder elf, hatte die Zähne geputzt und steckte schon im Schlafanzug. Stumm nahm ich Platz, verhalten irritiert. Auf dem Bildschirm spielten Musiker, winzige Gestalten, den kompakten Abmessungen unseres Fernsehers entsprechend. Ein Mann mit Cowboyhut, Ronnie Hawkins, wie ich erst viel später lernte, sang „Who Do You Love“ und fächelte dem Gitarristen – Robbie Robertson – bei einem Solo mit der Hutkrempe Luft auf die Saiten. Es war das erste Mal, dass ich Martin Scorseses The Band – The Last Waltz sah. Mein Vater erklärte mir das Wie und Warum, Bob Dylan, Abschiedskonzert, damals verstand ich nichts, ahnte aber, dass es wichtig war. Dann ergriff mein Vater meine Hand, so saßen wir da. Und dann trat er auf: Ein Mann, ein stilles Lächeln im Gesicht, Sonnenbrille, Baskenmütze und eine mächtige Fliege unterm schwarzen Bart. Eine pinkfarbene Fliege, aber auch das weiß ich erst heute. Der Mann setzte sich ans Klavier, lächelte ins Publikum, lächelte mich an, so dachte ich tatsächlich, zählte three, two, one, ließ die Finger über die Tasten tanzen und sang: “Such a night, sweet confusion under the moonlight…”
Am 7. Juni 2019 um kurz nach sieben Uhr morgens kamen diese Erinnerungen wieder hoch. Brutal und unvermittelt. Mir wurde schlecht, eine Mischung wohl aus vielem. Das Echo längst vergangener Gefühle von Geborgenheit. Sentimentalität. Tiefe Traurigkeit. Im kurzen Nachrichtenblock auf Deutschlandfunk Kultur hatte man den Tod von Dr. John verkündet. Malcolm John Rebennack Jr., „Mac“, Herzinfarkt mit 77. Dr. John, The Night Tripper, der Voodoo-Priester, der den Soundtrack zu vielem spielte. Erste Liebe, erstes gemeinsames Konzert mit der späteren Gattin. „Such A Night“, am Abend nach der Geburt der ersten Tochter in Endlosschleife. Ein Abend in Schwarz-Weiß, an der Hand des Vaters. Meine Frau sagt, sie habe mich zuvor noch nie erbleichen gesehen. Ich stand auf, ging ins Wohnzimmer und weinte.
PS: Unnützes Wissen, Teil 8: Fällt heute aus. RIP, Mac.