Strassenmusik
Illustration: Ralf Wolff-Boenisch
Marocchino, Espresso Laccino, Red Eye, Lungo. Die Auswahl des kleinen Cafés, das kürzlich bei mir um die Ecke öffnete, ist exquisit. Überwältigt von dieser Vielfalt bestellte ich konsequent einfallslos: einen Kaffee. Zum Mitnehmen. Da ich spät dran war, nahm ich den Pappbecher voll Kaffee mit ins Auto.
Kaum hatte ich den Motor gestartet, wurden die aktuellen Corona-Zahlen im Radio durchgegeben. Ein schönes Zusammentreffen von Statistik und Innovationsgeschichte, denn: Den modernen Pappbecher erfand Lawrence Luellen, ein US-Anwalt, im Jahre 1907 – und zwar aus panischer Angst vor Keimen. Seit die Corona-Pandemie unseren Alltag bestimmt, ist dieser Zustand etlichen Menschen nicht mehr fremd. Die Angst vor zu großen Aerosol-Wolken führte sogar dazu, dass das gemeinsame Singen zum Tabu wurde. Chorproben wurden gestrichen, Stimmtalente womöglich demotiviert. Karrieren wie die von Menzi Mngoma jedenfalls wären in Corona-Zeiten undenkbar.
Menzi Mngoma ist ein Taxifahrer aus Südafrika. Er sang über Jahre hinweg leidenschaftlich gern Opernarien während der Arbeit. 2019, an Corona dachte noch niemand, war ein Fahrgast davon derart beeindruckt, dass er ihn beim Arienschmettern filmte, den Clip ins Netz stellte und Mngoma so über Nacht zum Internet-Star machte. Die Oper in Kapstadt lud ihn sogar zum Vorsingen ein. Auf die ganz großen Bühnen schaffte es Mngoma bislang nicht. Doch er nahm immerhin eine Single auf (Feel The Love) und tourt regelmäßig als „La Tenori“ durch Afrika. Die übrige Zeit fährt er, wie eh und je, in seiner Heimat Taxi.
Ob auch die Ingenieure des amerikanischen Elektroautoherstellers Tesla Mngomas Geschichte kennen? Jedenfalls machten sie Singen im Auto jüngst als Geschäftsmodell aus. Anlässlich des chinesischen Neujahrsfestes brachte Tesla eine Karaoke-Software für das Entertainment-System seiner Autos in China auf den Markt. Die Wartezeit während des Stromtankens an der Ladesäule soll damit kurzweiliger werden. Auch dank spezieller Mikrofone, den sogenannten Tesla-Mics, die innerhalb von Sekunden ausverkauft waren. Kein Wunder: In China ist Karaoke eine Art Volkssport. Der Begriff stammt allerdings aus dem Japanischen und bedeutet übersetzt „leeres Orchester“. Mehr als 50 000 Karaoke-Bars gibt es in China. Nun kommen viele weitere leere Orchester hinzu – an Bord von Tesla-Modellen. Allein letztes Jahr verkauften die Amerikaner in China mehr als 400 000 E-Autos. Allesamt potenzielle, rollende Karaoke-Bars.
In Japan, einer weiteren Karaoke-Hochburg, kann man sogar mit seinem Auto im Duett singen. Denn dort werden den Fahrzeugen selbst Harmonien entlockt – auf sogenannten „Melody Roads“. Deren Belag ist kunstvoll mit Rillen und Schwellen bestückt, sodass Autoreifen eine Melodie erzeugen, wenn der Fahrer im richtigen Tempo darüberfährt. So erklingt etwa auf einer Straße nördlich von Tokio bei Tempo 40 das Stück „Itsumo Nandodemo“, der Soundtrack aus dem Zeichentrickfilm Chihiros Reise ins Zauberland.
Diese Art von Straßenmusik gibt es in Deutschland nicht, Teslas Karaoke-Mics genauso wenig. Als also die ersten Töne von Metallicas „Nothing Else Matters“ aus den Boxen meines Autos schallten, drehte ich den Lautstärkeregler des Radios auf, nahm den inzwischen leeren Kaffee-Pappbecher als fiktives Mikrofon in die Hand und sang lauthals mit.
PS: Unnützes Wissen, Teil 23: Der Japaner Daisuke Inoue kombinierte im Jahr 1971 einen Kassettenrecorder, einen Gitarrenverstärker und ein Mikrofon und erfand so die Karaoke-Maschine. Inoue, inzwischen 82 Jahre alt, ließ sich seine Idee nie patentieren. Reich wurde er daher nicht. Er wurde jedoch zu einem der einflussreichsten Menschen Asiens des letzten Jahrhunderts gewählt.