Steve Rothery – The Ghosts Of Pripyat
Spätestens wenn die Brothers-In-Arms-CD endgültig verschlissen ist, der Text von „Hotel California“ keine Rätsel mehr aufgibt, die Gänsehaut bei „Stimela“ einer neurotischen Beklemmung weicht und man die Cover der schweren Diana-Krall-Scheiben lieber nur betrachtet, statt die LPs aufzulegen, wird es Zeit für neue Test-Musik. Aber welche? FIDELITY weiß Rat.
Gibt es in jüngerer Zeit Alben, die ich persönlich im Regal unter „Klassiker“ einsortieren würde? Es wird immer schwieriger – so meine halbwegs diplomatische Antwort. Selten habe ich die Zeit, mir ein Album wiederholt, so oft und so ausgiebig anzuhören wie damals in jungen Jahren. Klar, da hatte ich Zeit, und mehr als eine Platte im Monat war vom Taschengeld her auch nicht drin. Ob das nun die Dire Straits waren oder auch The Cure, Pink Floyd oder Fleetwood Mac. Heute (und das ist für mich die Zeit seit der Jahrtausendwende) gibt es nur ganz wenige Alben, die ich mit derselben Hingabe höre wie eben die allgemein angesagten Klassiker. Dazu gehört aber rein subjektiv ganz eindeutig das 2014 erschienene Album The Ghosts Of Pripyat des Marillion-Gitarristen Steve Rothery!
Zusammen mit seiner Band und Gästen wie Steven Wilson oder Steve Hackett hat er die sieben Stücke in den Real World Studios aufgenommen. Dazu gibt es eine kleine Dokumentation auf DVD, die der damaligen CD in manchen Ausgaben beigelegt war. Steve und seine Mitstreiter sitzen in der Küche des Studios und sprechen über das Album per Kameramikrofon, während im Hintergrund mutmaßlich Geschirr gewaschen wird. Das ist akustisch wenig beeindruckend, ganz im Gegensatz zu dem Material, das während der Liveaufnahmen im Studio eingefangen wurde. Die Band lebt die instrumentalen Stücke, man spürt, dass jede Faser dieser Künstler voller Musik steckt.
Das Ergebnis ist dann die richtig gut aufgenommene Musik auf diesem Album. „Morpheus“ – mit Steve Hackett an der Gitarre – eröffnet die stimmige Songauswahl. Weite Keyboardflächen à la Pink Floyd und eine ebensolche Gitarre setzen den Ton für dieses Album. Das ist klassischer Rock im Stile alter Helden, ohne diese zu kopieren. Rothery selbst lässt bei den ersten Arpeggien seinen Jazz-Chorus-Verstärker (Roland) schwebend erklingen. Die Leadgitarre übernimmt die Rolle des Gesangs in diesem und den anderen Stücken. Man sei musikalisch freier ohne Stimme, meint Rothery am Küchentisch dazu. Trotzdem sind alle Kompositionen spannend und abwechslungsreich arrangiert und vor allem die ersten drei haben Ohrwurmcharakter. Starke Melodien und Soli! Gänsehaut? Ja, bei mir auf jeden Fall —warme Schauer, die ob der emotional packenden Gitarren meinen Rücken hinunterlaufen. Ich hatte das Glück, Rothery und seine Band mit eben diesen drei ersten Stücken in exakt der Reihenfolge live sehen zu dürfen. Es war ein herrlicher, einmaliger Moment. „Kendris“, das zweite Stück, setzt ebenfalls auf starke Melodien und Gabriel’sche Rhythmik. Steven Wilson ist in Sachen Melodie ja auch ein verlässlicher Lieferant und ein Gewinn für diesen Song. Treibend, sich immer weiter aufbauend und größer werdend wird es da zum Ende hin geradezu hymnisch, fast schon Marillion, wenn ich das sagen darf. Höhepunkt ist für mich aber das gut 11-minütige „Old Man And The Sea“. Eine Erlebnisreise, die in ihrer atmosphärischen Dichte selbst einem David Gilmour das Wasser abgräbt. Und der Rest der Platte? Spielt auf einem ähnlich hohen Niveau, auch wenn die Größe der ersten drei Stücken nicht mehr ganz erreicht wird. In der guten Vinyl-Erstausgabe liegt die Platte als Doppelalbum mit 45 rpm vor. Die Neuauflage aus dem Jahr 2020 soll nicht durchweg sauber klingen, schenkt man den einschlägigen Foren Glauben. Übrigens kündigt Rothery seit gut zwei Jahren ein Nachfolgealbum an – noch ist nichts erschienen, aber der Gitarrist kommt 2024 auf Tour. Die Hoffnung stirbt zuletzt!
Steve Rothery – The Ghosts Of Pripyat
Label: Inside Out Music
Format: Doppel-LP (45 rpm), CD
Steve Rothery – The Ghosts Of Pripyat im Inside Out Shop.