Der Ring, den man unbedingt haben muss
Die ultimative Fassung einer Jahrhundert-Opernaufnahme: Richard Wagner – Der Ring des Nibelungen, Halfspeed-Remaster der Einspielung der Wiener Philharmoniker unter Sir Georg Solti.
Achtung, jetzt kommen Superlative. Und zwar gleich ein paar. Weil es hier um einen Meilenstein der Tonträgergeschichte geht, der längst zur Legende geworden ist. Und weil es davon jetzt etwas gibt, das in der Literatur wohl „Fassung letzter Hand“ genannt würde.
Die Rede ist von Richard Wagners vierteiligem Opernzyklus Der Ring des Nibelungen, dessen erste ungekürzte Gesamtaufnahme die britische Decca in den späten 1950er Jahren in Auftrag gab, kaum dass die ersten Stereo-LPs in den Schallplattenläden erhältlich waren.
Um sich eine Vorstellung von den nicht nur im Klassik-Kontext gigantischen Dimensionen des Projektes zu machen, reicht ein Blick auf die Besetzung dieses Schallplatten-Rings, die so ziemlich alle Künstlerinnen und Künstler umfasst, die in Sachen Wagner-Interpretation damals den Ton angaben und folgerichtig auf dem Grünen (Festspielhaus-)Hügel in Bayreuth ein- und ausgingen.
Ein paar berühmte Namen gefällig? Birgit Nilsson, Kirsten Flagstad, Brigitte Fassbaender, Hans Hotter, Christa Ludwig, Wolfgang Windgassen, Régine Crespin, James King, George London, Dietrich Fischer-Dieskau und viele andere mehr. Sie alle kamen in den Wiener Sofiensälen zusammen, die traditionell nicht nur Aufführungsort waren, sondern auch Aufnahmestudio. Deshalb hatten die Mitglieder des Orchesters für den Jahrhundert-Ring auch einen besonders kurzen Weg. Denn diese Ring-Aufnahme lebt bis heute vom seidigen Klang und der überragenden Intonationskultur der Wiener Philharmoniker. Zu absoluten Höchstleistungen wurde das österreichische Elite-Orchester getrieben von einem, der schon in jungen Jahren war, was man heute „Pultstar“ nennen würde: Georg Solti.
Als der 1912 in Budapest als György Stern geborene Dirigent 1958 den Taktstock hob, um die ersten Takte des Ring-Vorabends Rheingold zu dirigieren, deutete sich bereits an, dass hier etwas – selbst für einen großen Musikkonzern wie die Decca – Außergewöhnliches entstehen würde. Die letzten Töne der Götterdämmerung würden Solti und Co. im Laufe des Jahres 1965 den schnell laufenden Magnetbändern anvertrauen, ehe Decca-Stammproduzent John Culshaw verkünden konnte, dass der letzte Take im Kasten sei. Rund acht Jahre Produktionszeit für eine über 16 Stunden Musik umfassende Opern-Gesamtaufnahme.
Der „Solti-Ring“, wie er kurz genannt wird, fand gerade rechtzeitig den Weg auf Tonträger. Schon wenige Jahre später wäre es deutlich schwieriger, wenn nicht unmöglich gewesen, ein solches Gipfeltreffen musikalischer Hochkaräter zu organisieren. Schon damals waren die Zeitpläne extrem eng getaktet, und wenn etwas aufgenommen wurde, erlaubten die vollen Terminkalender aller Beteiligten kaum Nachjustage, alles musste also mehr oder weniger auf Anhieb sitzen.
Käme heute jemand auf die Idee, für den wichtigen, aber vergleichsweise kleinen Nischenmarkt namens Klassik eine derart aufwendige Produktion realisieren zu wollen, würden selbst bei dezidierten Medienriesen wie Sony oder Universal die Rechnungsabteilungen abwinken: viel zu teuer, mit einem viel zu unsicheren „return of invest“ und deshalb nichts, was auch nur einen zweiten Gedanken wert wäre.
Kein Wunder, dass diese Aufnahme des Ring des Nibelungen bis heute kaum discografische Konkurrenz hat und dass Sammler eine Vielzahl von „Inkarnationen“ finden, wenn sie in den einschlägigen Auktionsportalen die Suchwörter „Solti“ und „Ring“ eingeben. Denn aus dem Titanen-Unternehmen saugte die Decca genug Honig, vulgo Gewinne, dass sich die horrenden Kosten von damals längst amortisiert haben.
Ende 2022 kam dann das, was die Decca publikumswirksam mit dem Slogan „The Golden Ring“ bewirbt und in edel wirkenden Schmuckschubern auf den Markt wirft. Auf den ersten Blick könnten vor allem jene, die sich die Tetralogie über die Jahre zunächst auf schwarzen und später auf silbernen Scheiben gegönnt haben, um die vermeintliche Klangverbesserung durch das digitale Medium zu genießen, auf böse Gedanken kommen. Alter Wein in neuer Verpackung, vielleicht für Wagner- oder High-End-Novizen von Interesse, die diesen besonderen Ring noch nicht kennen, weil er bei den Eltern oder Großeltern nicht im Regal stand und auch nicht häufig genug im Radio lief, um ihn wirklich wahrzunehmen. Mithin ein weiterer Versuch, durch eine längst „abbezahlte“ Produktion über eine neue Hörergeneration erneut Kasse zu machen.
Aber so ist es nicht. Ja, natürlich sind längst auch Jüngere im Fokus des Decca-Marketings. Ohne Hörernachwuchs geht es nicht. Aber die grundsätzlichen Motive hinter dieser Wiederveröffentlichung tragen durchaus edle Züge. Denn die mittlerweile zum Teil 65 Jahre alten Masterbänder, sie verfallen zusehends. Höchste Zeit, die musikalische Großtat, die auch heute noch nicht nur wegen des aufgebotenen Starpersonals Maßstäbe setzt, „für die Ewigkeit“ festzuhalten. Dem längst historischen Material ein Remastering angedeihen zu lassen, bei dem die aufnahmetechnischen Erkenntnisse der 2020er Jahre voll zum Tragen kommen. Und dabei nicht den Rotstift anzusetzen, sondern primär nach den bestmöglichen Ergebnissen zu streben.
Deshalb gibt es Soltis Ring auch in zwei verschiedenen Versionen. Sie haben gemeinsam, dass die Aufbewahrungsboxen im großzügigen LP-Format daherkommen. In den dunkelsamtroten Schubern verbergen sich tatsächlich schwarze Scheiben, deren Matrizen im Halfspeed-Verfahren entstanden sind und die von der Decca auf 180 Gramm schweres Vinyl gepresst wurden. Das pechschwarze Pendant, das der Schreiber dieser Zeilen für sich wählte, nutzt als Tonträger die selten gewordene SACD, die als „digitale LP“ über geeignete Player dem Klangpotenzial der Schallplatte extrem nahe kommt. Außerdem gibt es hier als großzügige Dreingabe auch noch eine 5.1-Surround-Version, die mit viel Fingerspitzengefühl und Wissen um die Eigenheiten der damaligen Produktion geschaffen wurde.
Welch immenser Aufwand hier von dem Team Solti/Culshaw auch und gerade für den Raumklang getrieben wurde, möge ein Beispiel zeigen, das sich in einer historischen BBC-Dokumentation über die seinerzeitigen Aufnahmesitzungen für die Götterdämmerung findet. In der letzten Oper des 16-stündigen Zyklus schreibt Wagner sogenannte Stierhörner vor, die zunächst nur als entferntes Grollen wahrnehmbar sein sollen und allmählich immer näher kommen. Um diesen Effekt in der Aufnahme zu simulieren, wurden die Stierhorn-Bläser für ein paar Takte in einem Nebenraum der Sofiensäle platziert und bewegten sich dann mit fortschreitender Szene langsam in Richtung Bühne. Das Ergebnis kommt Wagners Illusionsoper-Intentionen wohl sehr nahe – und lässt sich nun auch auf Tonträger besser als je zuvor nachvollziehen.
Denn der „Goldene Ring“ klingt räumlicher und tonal nahezu perfekt ausbalanciert. Selbst in der rein stereofonen Fassung ist der Eindruck, einem Livemitschnitt zu lauschen, einer realen Aufführung des Rings akustisch beizuwohnen, übermächtig. Jene subtilen Schärfen, jene sanften, aber hartnäckigen Hemdsärmeligkeiten, mit denen man sich im Lauf der Jahrzehnte zu arrangieren lernte und die man immer entschuldigend auf die Limitationen der frühen Stereofonie zu schieben geneigt war – sie sind verschwunden, als habe es sie nie gegeben. So luftig, so stimmig, so emotional stark hat Georg Soltis Ring-Deutung noch nie geklungen.
Warum man nun diese Version unbedingt erwerben sollte, selbst wenn man kein ausgepichter Wagner-Fan ist? Weil es, siehe oben, ungewiss ist, ob künftige Generationen von Tonmeistern und Produzenten überhaupt noch einmal eine Chance haben werden, sich mit den Originalbändern dieser in fast jeder Hinsicht herausragenden Ring-Produktion zu befassen. Schon jetzt war es notwendig, die alten Tonbänder unter genau definierten Bedingungen „aufzubacken“, die aneinanderklebenden Bandlagen vorsichtig zu lösen, um sie – vielleicht ein letztes Mal – vernünftig abspielen und optimiert speichern zu können.
Auch sorgsam klimatisierte Aufbewahrung wird das Ende vielleicht hinauszögern, aber wohl nicht final verhindern können. Der Inhalt der Bänder ist nun immerhin so vollständig und hochwertig, wie dies die Tontechnik der Gegenwart vermag. Er ist in ein paar zehntausend Kopien auf Tonträger gebannt worden, die das Optimum des Jahres 2023 verkörpern. Aus heutiger Sicht nahe 100 Prozent des Möglichen. Grund genug, vergleichsweise viel Geld auszugeben – die Boxen kosten je nach Dauer der darin enthaltenen Musik (und Zahl der dafür benötigten Tonträger) zwischen 90 und 170 Euro – und sich den liebevoll generalüberholten Solti-Ring zu holen, solange man ihn bekommt. Mit ihm feiert sich die Decca ein Stück weit selbst. Und beschenkt alle, die Musik mögen
Richard Wagner – Der Ring des Nibelungen (Halfspeed-Remastering), Teil 1–4
Wiener Philharmoniker, Sir Georg Solti
Label: Decca
Format: LP (Vinyl 180 g), SACD (24 bit/96 kHz)
- Das Rheingold (Teil 1) | Solisten: Kirsten Flagstad, George London, Set Svanholm, Gustav Neidlinger, Kurt Böhme | Format: 3 LPs, 2 SACDs
- Siegfried (Teil 2) | Solisten: Wolfgang Windgassen, Birgit Nilsson, Hans Hotter, Joan Sutherland, Gerhard Stolze, Gustav Neidlinger, Kurt Böhme, Marga Höffgen | Format: 5 LPs, 4 SACDs
- Die Walküre (Teil 3) | Solisten: Birgit Nilsson, Hans Hotter, James King, Christa Ludwig | Format: 5 LPs, 4 SACDs
- Götterdämmerung (Teil 4) | Solisten: Birgit Nilsson, Dietrich Fischer-Dieskau, Lucia Popp, Wolfgang Windgassen, Gwyneth Jones, Gottlob Frick, Gustav Neidlinger, Helen Watts, Grace Hoffman | Format: 6 LPs, 4 SACDs