Raumakustik, Teil 1 – Von Kerben, Dröhnen und Geisterstimmen
Raumakustik ist komplexe Wissenschaft. Viele Parameter beeinflussen sich gegenseitig, wenn Musik im Raum ertönt, und praktisch kein Zimmer klingt deshalb wie das andere. Wir wollen uns den wichtigsten Aspekten dieses zentralen Themas widmen. Den Anfang machen Resonanzen und Moden.
Illustration: Ralf Wolff-Boenisch
Vor etlichen Jahren wurde ich Zeuge einer eindrucksvollen Demonstration akustischer Phänomene der Raumakustik. Bose hatte zur Produktvorstellung geladen, die erste Generation der kompakten 3•2•1 kam auf den Markt. Da die Anlage mit der Raumabbildung spielte, kredenzte das Presseteam den verblüfften Journalisten zur Einstimmung ein unheilvolles Wimmern vom Tonband. Die Aufnahme hätte perfekt in jeden Horror-Schocker gepasst. Es handelte sich um ein mehr oder weniger statisches Gebilde disharmonischer Mittenfrequenzen, die durch etwas Undefinierbares moduliert wurden, hin und her waberten, als versuche uns eine ferne Stimme auf trübe Wetteraussichten einzustimmen.
Die Erklärung war so einfach wie erstaunlich: Es handelte sich um einen beliebigen Pop-Song, der von einer Bandmaschine abgespielt und von einer anderen – am entgegengesetzten Ende eines mittelgroßen Wohnraums – mittels Mikrofon aufgenommen wurde. Drei, vier Durchläufe, und von dem Song war nichts mehr übrig. Die Aufnahme enthielt gewissermaßen die pure akustische Signatur des Zimmers, in dem sie eingefangen wurde, stetig verändert durch die wechselnden Amplituden des Songs. Ein Aspekt der Raumphysik, gegen den kein Akustikmodul, kein Teppich, keine noch so herrlich streuende Topfpflanze etwas ausrichten kann: Gebräuchlich ist der Begriff „Resonanz“, richtiger wäre das Wort „Raummode“.
Simple Mathematik, komplexe Wirkung
Als Mitglied der highfidelen Bildungsschicht wissen Sie natürlich, was eine Mode ist: Es handelt sich um Frequenzen, deren Wellenlänge im Bezug zu den Abmessungen des Hörraums steht. Beträgt die Distanz zwischen zwei gegenüberliegenden Wänden 3,4 Meter, entspricht das der Wellenlänge einer 100-Hz-Schwingung. Ist der Raum 6,8 Meter lang, sind es 50 Hz – je größer das Zimmer, desto tiefer seine Grundfrequenz. Für Ihren Hörraum können Sie diese Frequenzen ganz einfach selbst bestimmen: Sie ergeben sich aus der Formel „Schallgeschwindigkeit (in Meter pro Sekunde)/Wellenlänge (in Meter)“. Die Schallgeschwindigkeit bei 20°C beträgt 343 m/s. Bei einem Wandabstand von 4,6 m (343 m/s : 4,6 m) ergeben sich daraus gerundete 74,6 Hz für eine Schwingungsperiode beziehungsweise 37,3 Hz für eine einzelne Sinusauslenkung, die einem halben Periodendurchlauf entspricht. Wie aber wirkt so eine Raummode akustisch?
Sofern der Architekt bei der Planung des Raums nicht beschwipst war, sollten die meisten gegenüberliegenden Wände exakt parallel ausgerichtet sein. Strahlt ein Lautsprecher (oder eine andere Schallquelle) einen breitbandigen Impuls ab, wird ein großer Teil des Schalls in krummen Winkeln durch den Raum reflektiert und zerstreut, was keine (oder nur geringe) Probleme verursacht. Ein Teil wird jedoch „zwischen den Wänden gefangen“. Er pendelt mit abnehmender Amplitude langsam ausklingend hin und her, während die laufende Musikwiedergabe die Frequenzen fortwährend anregt und füttert.
Bei Schall handelt es sich bekanntermaßen um wechselnde Luftdruckunterschiede. Ein 25-Hz-Signal erhöht und verringert 25 Mal pro Sekunde den Druck im Zimmer. Die Differenz dieser Druckschwankungen ergibt die Amplitude, also die wahrgenommene Lautstärke. Wie Sie vielleicht wissen, verhält sich Schalldruck additiv beziehungsweise subtraktiv – überlagern sich zwei identische Druckwellen, verdoppeln sie ihre Amplitude, der wahrgenommene Schallpegel steigt um 6 Dezibel. Sind die Phasen invertiert, trifft also eine positive Druckwelle auf eine gleichstarke negative, löschen sie sich komplett aus. Der Schalldruck sinkt ins Unendliche und es herrscht Stille. So weit der einfache Teil.
Was nun folgt, klingt etwas knifflig, ist jedoch essenziell für die Meisterung der Raumakustik. Oben habe ich Halbwellen erwähnt, einzelne Sinusauslenkungen. Obwohl sie keine hörbare Tonhöhe haben, definieren sie die Grundfrequenz des Raums, da sie der kleinste Schwingungsteil sind, der statische oder stehende Interaktionen auslöst. Bleiben wir beim 3,4-Meter-Wandabstand: Geben wir einen 50-Hz-Sinus auf den Lautsprecher, erzeugt der eine positive Auslenkung (eine Druckerhöhung), die den gesamten Raum zwischen den Wänden ausfüllt, ehe sie reflektiert wird. Unmittelbar darauf folgt eine negative Auslenkung gleicher Amplitude, die mit der Reflexion der ersten Halbwelle zusammentrifft. Durch ihren räumlichen Bezug überlagern sich beide Wellenabschnitte perfekt, es sollte also zur vollständigen Auslöschung kommen. Das ist aber nicht der Fall. Zumindest nicht vollständig: Je nach Beschaffenheit und „Schallhärte“ reflektieren die Wände nur einen Teil der auftreffenden Energie. Die bereits abgeschwächte Reflexion der positiven Halbwelle löscht daher nur einen Teil der folgenden negativen aus. Es entsteht ein leichtes Drucktief, das für einen kurzen Moment (Stichwort Nachhallzeit) im Raum steht und Auswirkungen auf alle folgenden Schallimpulse hat.
Wir lernen daraus: Material, Oberfläche und Stabilität der Wände haben direkte Wirkung auf die akustische Wahrnehmung, die Raumakustik. Je härter, glatter und unflexibler das Mauerwerk ist, desto mehr Energie wird reflektiert. Die Intensität der Reflexion hat Wirkung auf die Amplitude (bzw. Lautstärke) aller Frequenzen. Dünne, anregungsfreudige Wände absorbieren viel Schallenergie oder lassen sie vollständig durch. In einem dünnen Trockenbau mit einem Grundmaß von 3,4 Metern kann daher auch kein Bass unterhalb seiner Grundfrequenz (100 Hz) stattfinden. Tiefere Frequenzen passen einfach nicht hinein.
… etwas Neues entsteht
Die Grundschwingung ist freilich nur ein Teilaspekt des Phänomens. Auch die „Harmonischen“ – Frequenzen, die geradzahlig auf der Basisschwingung aufbauen – werden zwischen den Wänden gefangen. Bei 100 Hz sind das 200 Hz, 400 Hz, 800 Hz und so weiter … die Oktaven, wie ein Musiker sagen würde. Und genau hier nähern wir uns auch einer Erklärung des beschriebenen Geistereffekts: Schon wenn sich nur zwei Harmonische überlagern, entsteht eine tückische Interaktion. Ihre positiven und negativen Auslenkungen stehen durch die Beziehung zur Raumdimensionen statisch im Zimmer. Ihre Amplituden addieren oder subtrahieren sich. Grundfrequenz und Harmonische werden dabei drastisch verstärkt und als Resonanzen wahrnehmbar. Zudem entsteht aus den reinen Sinustönen eine völlig neue, komplexere Wellenform (siehe Illustration), die so nicht im Ausgangsmaterial vorhanden war. Eine Form der Verzerrung, wie wir bereits hier gelernt haben.
Und natürlich überlagern sich in der Praxis mehr als nur zwei Harmonische. Bislang sprachen wir zudem nur über eine Raumdimension, den Abstand zwischen zwei gegenüberliegenden Wänden. Ein Zimmer hat allerdings sechs Wände, aus denen sich insgesamt drei Bezugsgrößen (Breite, Tiefe und Höhe) ergeben. Die individuellen Moden eines Raums resultieren aus dem Zusammenspiel aller drei Grundfrequenzen und sämtlicher Harmonischen, die gemeinsam ein undurchschaubar komplexes Überlagerungsmuster ergeben. So merkwürdig es klingt, diese Potenzierung hat einen Vorteil: Durch ihre Komplexität bilden die Raummoden vor allem in mittleren und hohen Frequenzen ein dichtes Geflecht aus stehenden Wellen und Auslöschungen, in dem man keine einzelnen Resonanzen mehr wahrnimmt. Genau deshalb konzentrieren sich die meisten Raumprozessoren auf den Bassbereich, dessen isolierte und deutlich wahrnehmbare „Dröhnfrequenzen“ die größten Probleme bereiten.
Ein besonders kniffliger Fall übrigens tritt auf, wenn der Raum zwei identische Dimensionen besitzt. Misst er genau 3,4 mal 3,4 Meter, würde sich alles um die Grundfrequenz von 100 Hz drehen, die Raummoden zwischen den vier Wänden würden sich gegenseitig aufschaukeln. Ein Zimmer für highfidelen Musikgenuss sollte daher unbedingt rechteckige Grundmaße besitzen, die in keinem geradzahligen Bezug zueinander stehen: 4/2/8 Meter (B/H/T) sind mies, 4,33/2,25/6,46 Meter dürften weniger Probleme machen. Praktisch keine Moden gibt es, wenn sich die Wände nicht gerade gegenüberstehen. In Wohngebäuden findet man das praktisch nie. Die Aufnahmeräume vieler Tonstudio-Neubauten oder Konzertsäle wie die Elbphilharmonie sehen deshalb aus, als hätte ihr Architekt die falschen Medikamente erwischt.
Raumakustik Gegenmaßnahmen?
Das bringt uns zur abschließenden Frage: Was kann man gegen Moden und Resonanzen unternehmen? In einem Wort: nichts! Sie sind die physikalische Grundkonstante jedes Hörzimmers. Vor allem Auslöschungen kann man nicht entgegenwirken. Eine Verstärkung fehlender Frequenzen würde zur Vergrößerung der auslöschenden Reflexion führen – der Verstärker läuft heißt, die Mode bleibt. Bei Überhöhungen ist das etwas anders: Bereitet ein stehender Ton von 32 Hz Probleme, kann man ihn zielsicher mit einem Kerbfilter beseitigen – die Frequenz wird nicht mehr angeregt, die Mode verstummt. Zwar verfärbt auch das die Wiedergabe, doch dürfte der Nutzen in so einem Fall den Verlust überwiegen. Bleibt nur noch ein Problem: Wie angedeutet variiert die Schallgeschwindigkeit mit der Luftfeuchtigkeit und Temperatur. Bei schwülen 43°C sind Töne langsamer als bei trockenen 6°C. Die hertzgenauen Filter eines im Hochsommer eingemessener Raumprozessors könnten deshalb im tiefsten Winter leicht danebenliegen. Da wir allerdings auch so frei waren, sämtliche Hertzangaben zu runden, wollen wir hier mal nicht zu pingelig sein …
Als Literatur zum Thema können wir Ihnen den englischsprachigen Almanach Sound Reproduction von Floyd E.Toole empfehlen. Einen sehr guten Online-Rechner für Wellenlängen finden Sie unter www.sengpielaudio.com/Rechner-wellen.htm. Einen komplexen Raummoden-Simulator mit Raumdruckdarstellung und Anregungsbeispielen finden Sie unter www.trikustik.at/raummoden-rechner.
Mehr TechTalk? Hier geht’s lang …