Rap und Poesie im Gospel-Gewand
Im Sommer 2016 machte ich eine musikalische Entdeckung, die bis heute nachklingt. Damals, in einer Zeit, da noch Konzerte stattfanden, trat beim Dockville-Festival in Hamburg ein junger Mann aus London auf. Ich kannte Loyle Carner nicht, und so ging es vermutlich den meisten Zuschauern an jenem lauen Sommerabend. Man saß auf der trockenen Wiese vor der Bühne, umgeben von Hafenkränen und alten Speichern, den Duft von Elbe, Bier und würzigen Rauchfahnen in der Nase. Loyle Carner, damals gerade 20 Jahre alt, rappte sich in unsere Herzen. Butterweiche Sounds, durchsetzt von Soul- und Funk-Elementen, der perfekte Groove für einen wunderbaren Abend. Nicht einmal ein Album hatte Benjamin Coyle-Larner, der sich wegen seiner Legasthenie mit Augenzwinkern „Loyle Carner“ nennt, bis dahin veröffentlicht. Auf Tour mit Kate Tempest und als Vorband von Nas hatte er erste Erfahrungen gesammelt, hatte eine EP herausgebracht (A Little Late, 2014) und eine Handvoll Singles. Dann kam im Jahr darauf sein erstes Album, Yesterday’s Gone, und das ist bis heute eines meiner bevorzugten Werke, wenn ich nicht nur feine Rap-Melodien und genial platzierte Samples, sondern auch perfekt abgemischten Sound genießen möchte. Vor allem in Zeiten, da Konzerterlebnisse bis auf weiteres nicht möglich sein werden.
Wenn etwa das Saxofon des legendären italienischen Filmkomponisten Piero Umiliani in „Ain’t Nothing Changed“ den Ton angibt, hat Loyle Carner bereits die volle Aufmerksamkeit der Zuhörer, noch bevor er selbst das erste Wort in den musikalischen Ring geworfen hat. Der Track sampelt Umilianis „Ricordandoti“ und vereint dessen Melancholie perfekt mit den für Rap-Verhältnisse eher sanften Vocals Loyle Carners, der in seiner Poesie komplett auf Füllwörter verzichtet. Und mit den Klischees des Rap bricht – kein Glorifizieren von Statussymbolen wie teure Autos, keine utopischen Geschichten der Straße, keine modernen Sound-Spielereien mit Auto-Tune. Stattdessen: persönliche Lyrics über die Familie, Sozialkritik und nachdenkliche Poesie – „socially-conscious hip hop“, wie die britische BBC es beschreibt, sozialbewusster Hip-Hop also. Vorgetragen in einer Weise, die an Rap-Legenden wie De La Soul oder A Tribe Called Quest erinnert: Die Punchlines perfekt artikuliert, der Flow optimal den mal souligen, mal jazzigen Beats angepasst, die zu einer perfekten Symbiose mit der Lyrik verwoben werden.
Carners Stimme ist sein Instrument, gerahmt von Beats, die sich zahlreicher musikalischer Genres bedienen. Episch eingeleitet wird Yesterday’s Gone vom Sample des Gospel-Klassikers „The Lord Will Make A Way“ des S.C.I. Youth Choir. Die 70er-Jahre-Jazzkomposition „Ladybird“ des britischen Schlagzeugers und Komponisten Brian Bennett schafft in „Mean It In The Morning“ die Atmosphäre, und ein Pop-Sample von Zach Gills‘ „Fine Wine“ groovt auf „No Worries“. Mal ist es ein rockiges Gitarrenriff, von dem das Thema bestimmt wird, dann sind es Klavierakkorde in Moll oder seufzende Saxofonklänge. Die Texte handeln vom eigenen kleinen Lebenskosmos, etwa von der Familie, die zusammen mit einigen Freunden im Übrigen auch das Cover ziert. Carner verarbeitet den Verlust seines Stiefvaters, eines leidenschaftlichen Gitarristen („BFG“), dessen Gitarrenspiel er im Outro des Albums per Sample ein Denkmal setzt. Er thematisiert den Wunsch nach einer kleinen Schwester, der er Vaterfigur sein könnte („Florence“), oder schreibt seiner Mutter eine Hymne („Sun Of Jean“). Dabei gleitet Carner so sanft über die Beats, dass sich das Gefühl einstellt, man bekomme aus einem Tagebuch vorgelesen.
Es ist ein Sound, der aus zahlreichen Neuerscheinungen im Rap heraussticht, 2016 beim Dockville-Festival wie heute in meinem Plattenschrank. Ein Sound für laute, aber auch sensible Lautsprecher, ein Sound zum Zurücklehnen. Carner, der von sich selbst sagt, er kenne sich besser mit Jazz aus als mit Rap, durchbricht mit seinen Texten und Beats Rap-Konventionen und ist dabei doch so real wie kaum ein zweiter. Denn das ist Yesterday’s Gone: ehrliche Poesie, verspielte Samples, musikalische Vielfalt – ein Rap-Album, das auch genreferne Hörer begeistern dürfte.
Loyle Carner
Yesterday’s Gone
Label: Caroline/Universal Music
Format: CD, LP