Professor P.’s Rhythm and Soul Revue
Der Professor entspannt und tanzt, je nach Taktung und Tempo der neuen Werke von Noth, Karwendel, Robert Finley, Brent Cobb und The Allergies.
Es war im vergangenen Herbst, da suchte der Professor Zuflucht vor kalten Winden. Eine kühle Bö trieb manch zwischen Laubhaufen Herumirrende in ein Etablissement, in dem später am Abend wärmende Klänge durch den Dachstuhl wehten. In der ausgebauten Oberstube des von verschachtelter Architektur geprägten Gebäudes jaulte aber zunächst ein circa zwölfjähriges Popwunder aus Kasachstan oder Finnland, ich hab’s vergessen, seltsame Schrägheiten zu Beats aus dem Laptop. Nun, Vertreter:innen der gerade dem Babyspeck entkommende Generation Zett finden sowas offenbar gut. Dies ist auf den Seiten von Professor P.’s Rhythm and Soul Revue übrigens der erste und ziemlich sicher letzte Einsatz des aus fehlgeleiteten linguistisch vergenderten Engagements aus seinem natürlichen Satzgefügehabitat entführten Doppelpunkts, das nur nebenbei. Der Professor hingegen wurde beim finnisch/kasachstanischen Avantgarde-Plingplang fast vom eigenen Fragezeichen über dem Kopf erschlagen. Mit einem Fuß schon wieder im Wetter, fingen mich dann aber freundliche Klangwolken ein, sodass ich innerhalb einer Zeptosekunde* zurück auf dem Konzertdachboden stand. Hier spielte nun ein Duo, das sich für die Selbstentfaltung auf der Bühne oder im Studio gerne in ein Sex-, Sep- oder Oktett verwandelt, je nach Bedarf. Dazu gleich mehr.
Jedenfalls möchte ich mich heute dem von mir ansonsten aus gewissen Gründen gerne vernachlässigtem Genre des Indiedeutschpops bzw. der heimischen Singer-Songwriter-Lyrik widmen, dem Soul des kleinen Mannes also. Wie gesagt, es war kalt, das Herz brauchte Wärme. Braucht es noch. Eigentlich immer, wenn ich ehrlich bin, ich weiß nicht, wie’s Euch geht. Die Band Noth jedenfalls, von der ich gleich erzählen werde, macht dafür die richtige Musik. Diese wird von einem kleinen Hamburger Label vertrieben, Backseat ist der Name. Und dessen Gründer wiederum schreibt auch selbst sehr feine Songs – Herr Król sei hier auf Papier gegrüßt, dem Vinyl der Kommunikationswelt. Und erweckt diese Lieder via mit seiner tiefst unterm Mainstream-Radar fliegenden Band Karwendel mit melancholischer Metaphorik zum Leben, sodass ich mich einfach mal dazu hinreißen lasse, unparitätisch Platz zu schaffen für gleich zwei neue Werke aus dem Hause Backseat. Bleibt in der Leitung.
*Extraservice für Hobbymathematiker und Teilzeitzeitforscher: Eine Zeptosekunde entspricht einem Billionstel einer milliardstel Sekunde. Ein Lichtteilchen etwa benötigt 247 Zeptosekunden, um ein Wasserstoffmolekül zu durchqueren. Also deutlich länger, als der Professor brauchte, um vom Ausgang des Musikclubs zurück vor die Bühne zu tigern, auf der die Band Noth ihr Konzert startete.
Noth – Lieder vom Verschwinden
Ist das Pop? Punk? Poetisches Neuland? Der Professor ist verwirrt, kehrt er doch sonst Künstlern und Künstlerinnen flugs den Rücken, die auch nur im Entferntesten der Kategorie „Singer/Songwriter“ zuzuordnen wären. Das mag schizophren klingen von einem, der zu jedem Bob-Dylan-Konzert eilt, das mit einem schnellen 12-Stunden-Flug zu erreichen ist. Doch das selbstverliebte, meist drei Oktaven zu hoch intonierte Hauchen und Fauchen von bärtigen Akustikgitarristen oder unterzwanzigjährigen TikTok-Influencerinnen, die meinen, ihre Zwei minus in Musik plus drei Akkorde samt halbgarer Textmetaphorik ergäben automatisch etwas, das man der Welt zumuten müsste – that’s not my cup auf tea. Nun, Noth ist da anders. Und der Professor ist kein Songwriter-Faschist, der sich nicht auch von seinen selbstgerechten Prinzipien verabschieden könnte, zumindest zeitweise. Die Band besteht im Wesentlichen aus zwei Musikern, dem Kölner Luis Schwamm und Linus Kleinlosens aus Hamburg. Die trafen sich im Lockdown, und weil’s nichts anderes zu tun gab, gründete man 2020 eine Band, telefonierte bei den ersten Lockerungen Bassist, Schlagzeuger, Geigerin und einige Bläser zusammen und veröffentlichte 2022 das Debüt Die Wahrheit über Arndt bei Backseat. Ein – ich zitiere eine schöne Beschreibung aus den Tiefen des Internets – „Storytelling-Konzeptalbum zwischen psychotischer Office-Operette und akustischer Road-Novel“. Das machte Spaß, und so begab man sich gleich darauf erneut ins Studio.
Ende 2023 nun erschien bereits das zweite Album, Lieder vom Verschwinden, dessen erste öffentliche Inszenierung der Professor im Dachstuhl des weiter vorne erwähnten Musikclubs im Rahmen des Reeperbahnfestivals erleben durfte. Ein wunderschönes Album, verzeiht das ausgeleierte Adjektiv, mir fällt nichts Treffenderes ein. Pop, Poesie und Punk-Fragmente in nicht nur alliterierendem, sondern auch stilistisch wohlbalanciertem Gleichgewicht. Ein paar persönlich-professorale Eindrücke: „Alles ist vergänglich“ (flotter Rhythmus mit Schnellgesang, eingängiger Melodie im Refrain, vorangetrieben von Saxofon und Trompete; gute Texte wie diese nahezu endlose Songzeile: „Die norddeutschen Wolken, der Straßenbelag, die befristete Miete, der Nagel im Sarg, die schönen Künste, der Rost an der Haube, die Zwecken im Reißbrett, das Grün an der Laube, ein zynischer Glückskeks, das Eis zur Belohnung – alles ist vergänglich …“), „Kleines Lied“ (sparsamster Drumbeat, filigrane Akustikgitarre, dahinter ein milde gestimmter E-Bass und eine verschlafene Stimme – mehr braucht es nicht, um der Verwunderung über ein überraschendes Glücksgefühl im gewohnten Trott des Alltags Ausdruck zu verleihen) und „Große Gefühle“ (Rock-Dings zwischen Deichkind-Wumms, Rio-Reiser-Deutsch-Punk und dezenten Free-Jazz-Anleihen). Und das grandiose „Mitnehmkiste“ (melancholische Miniatur mit feinfühliger Querflöte, in der sich ein zweieinhalbminütiger Popsong versteckt.)
Label: Backseat
Format: LP, DL 24/44
Karwendel – Geteiltes Herz
Mit der Querflöte hörte es bei Noth auf, mit Klarinette geht es bei Karwendel weiter. Sebastian Król, Mitbegründer der Künstleragentur und des Plattenlabels Backseat, gönnte sich im vergangenen Jahr zwischen allem Betreuungs-Engagement für andere Künstler (hier auf diesen Seiten schon aus dem Backseat-Portfolio besprochen: die norwegische Minimalistenfunkbigband Fieh, das australische Folkrocktrio Sons Of The East und der den USA entflohene Musikschaffende Ian Fisher) die Aufnahme einer eigenen EP. Sechs Songs, Freunde, die Euch kleine, ungeplante Melancholieschübe verschaffen werden. Zarteste Melodeien, spartanisch arrangierte Instrumente und tiefschürfende Texte … Als der Professor sich eben ein zurückgezogenes Stündchen mit dem Werk Geteiltes Herz gönnte, flötete aus dem Nebenraum ein Töchterchen, ansonsten auf Reisen in den unendlichen Weiten des Paralleluniversums Pubertät, die unfassbare Wortkaskade „Was ist das? Klingt schön.“
Nun, jedenfalls träumte ich mich auf dem Sofa liegend in seltsamste Sphären. Zu siebt haben Król und seine musikalischen Mitstreiter das alles live im Studio aufgenommen, irgendwo zwischen Nord- und Ostsee in einem Dorf namens Galmsbüll, nachdem die Songs zuvor in Ein-Mann-Klausur in einer Hütte im Tiroler Karwendelgebirge komponiert worden waren (daher auch der Name der Band). Van Morrison habe ihn geprägt, schreibt der Künstler, und das offensichtlich nicht in Sachen Bluesröhre oder Verschwörungstheorie, sondern hinsichtlich „der offenen Form“ der Klanggestaltung. Folk- und Jazzelemente umtanzen sanften Dichtersoul in weiten Landschaften, sodass dabei tatsächlich etwas entsteht, das nicht versteckt depressiv, sondern vertraut und tröstend klingt. Reduzierte Rhythmen, die Dreifaltigkeit spärlichster Instrumentierung aus Piano, Bass und Drums, eine vorsichtige Akustikgitarre, ein Hauch Elliott Smith, die karge Klarinette: Der Professor empfiehlt, sich Zeit zu nehmen für Geteiltes Herz und sich ganz dem assoziativen Fühlen hinzugeben, eine bewährte Disziplin der Selbstheilung, die ich gerade erfunden habe.
Die EP ist bisher nur digital erschienen und auf den gängigen Streaming- und Download-Portalen erhältlich. Mitte des Jahres erscheint ein vollständiges Album mit vier weiteren Songs, dann auch als CD.
Label: Backseat
Format: digital
Robert Finley – Black Bayou
Ich schreibe diese Zeilen am 5. Januar Anno Domino-Vanille-Waffel-Eis-mit-Schokoglasur 2024 und kann bereits heute voller Überzeugung sagen: Das ist des Professors Album des Jahres (obwohl in den ausklingenden Tagen des vergangenen 2023 erschienen). Robert Finley werden aufmerksamste Leser eventuell noch kennen, stellte ich den aus dem Nichts aufgetretenen Soulfunkbluesgroßvater bereits in Ausgabe 38 Eures liebsten Soul-&-Funk-Kompendiums FIDELITY vor. Seitdem aber ist viel Wasser den Mississippi herab in den Golf von Mexiko geflossen und einiges passiert. Nachdem Dan Auerbach vom kongenialen Rumpelblues-Duo bzw. heute vielköpfigen Mehrzweckhallen-Phänomen Black Keys das zweite Album von Robert Finley produziert hatte, Goin’ Platinum, drehte jener dann eine Extrarunde auf der Bühne von America’s Got Talent und stieß dort, umringt vom üblichen Castingshow-Völkchen, mit schwarzem Lederanzug, knallrotem Bühnenhemd und ausladendem Cowboyhut in Extra Large sowie mit selbst komponierten Soul-Krachern sensationell bis ins Halbfinale vor. Daraufhin bekam Finley gleich zwei Stadtschlüssel aus seinem Heimatstaat Louisiana verliehen, in seinem Geburtsort Bernice sowie in seiner heutigen Wahlheimat Winnsboro, wo man obendrein einen neuen Feiertag einführte, den „Robert Finley Fun Day“ am 10. August.
Wie der ehemalige Hubschrauber-Mechaniker und Tischler, der wegen einer Glaukom-Erkrankung im Alter erblindete und im dritten Bildungsweg zum Musiker avancierte, zwischen Blues-Bass und Soul-Falsett wechselnd singend postmoderne Gospelgrooves aus der Taufe hebt und auf seinem mittlerweile vierten Album von Funk umtanzte Short Storys repetiert („I was out in the club one night…“), Freunde, dass wir das noch erleben dürfen. Black Bayou ist wieder von Auerbach produziert, diesmal ist auch Black-Keys-Drummer Patrick Carney mit von der Partie. Außerdem wurde erneut Gitarrist Kenny Brown verpflichtet, mit 70 Jahren genauso alt wie Robert Finley und eine Legende im North Mississippi Hill County, wo Brown Jahrzehnte an der Seite von R.L. Burnside und Junior Kimbrough durch die Juke Joints zog, in denen man die Vermischung von Soul und Blues als groovelastigen, von nur wenigen Akkordwechseln geprägten „Hill Country Blues“ beziehungsweise „Hypnotic Boogie“ feiert. Nun, ich könnte stundenlang weitererzählen … allein, der Platz ist aus. Hört Euch Black Bayou an, ein wahnwitziges Werk zwischen fettem Seventies-Retro-Soul, spartanischem Deltafunk und dezenter Punkrock-Ästhetik. Listen!
Label: Easy Eye Sound
Format: CD, LP, DL 24/48
Brent Cobb – Southern Star
Never trust the first song! Das ist eine der Lebensweisheiten, die der Professor aus den 95 Jahren seiner ersten Lebenshälfte mitgenommen hat. Southern Star, das sechste Studioalbum von Brent Cobb, startet mit dem Titelsong extremst entspannt. Irgendwo verortet zwischen gemäßigtem Kenny-Rogers-Sound und plätschernder Jack-Johnson-Lässigkeit. Da driftet man dezent ab ins Nirwana unzusammenhängender Gedankenströme, zumal Song Nummer zwei auf der Platte, „It’s A Start“, dann fast noch tiefenentspannter aus den Boxen geschlurft kommt. Doch, Obacht! Es folgt „Livin’ The Dream“, ein Mix der professoralen Lieblingsstilistiken New-Orleans-Funk, Tulsa-Groove und Memphis-Soul, dazu dezenter Gospel-Rap-Gesang, der an den postmodernen Bluesgroove der Band G. Love and Special Sauce aus Philadelphia erinnert. Und kurz darauf: „Devil Ain’t Done“, ein seltenes Zeugnis des eigentlich gar nicht existenten Genres Country-Funk, changierend zwischen Americana-Atmo, Memphis-Funk und Mississippi-Mundharmonika. Also, Fazit: Brent Cobb, Enddreißiger aus dem Südstaat Georgia mit einer Dekade Nashville in den Knochen und Vertreter des sogenannten Arbeiter-Musikstils Blue Collar Country, in dem Southern Soul mit westamerikanischen Western-Fragmenten und oldschoolmäßigen Bluegrass-Bits vermengt wird, ist ein guter Mann.
Label: Ol’ Buddy Records/Thirty Tigers
Format: CD, LP, DL 24/96
The Allergies – Tear The Place Up
Eine frisch gesampelte Soulshouterstimme, feiste Funkgrooves aus der Geheimkonserve, Achtzigerjahre-Vinylscratchsounds, Bläsercrescendo, und dann verkündet am Mikrofon Andy Cooper, einst Frontrapper der Neunzigerjahre-Legende Ugly Ducking aus Los Angeles: „Let’s start the show!“ Ja, so kann’s losgehen, und so geht es los auf Tear The Place Up, dem sechsten Album in sieben Jahren der britischen Sample-Künstler Rackabeat und DJ Moneyshot alias The Allergies. „Green Light Go!“ ist die Eröffnung einer kolossalen Tanzparty. Elektrifizierende Elektrobeats, Bluessamples, Soulfragmente – das klingt, als habe man ein verschollenes Plattenprojekt aus der Spätphase der Beastie Boys entdeckt und das über Nacht in Tabasco und Turkey-Gravy mariniert. Aus Bristol in Südengland stammt das Duo, das als Hiphop-DJ-Projekt seit Jahren rund um den Globus tourt mit umfangreicher Vinylsammlung im Gepäck. Und dabei entdeckt hat, dass man auch selbst glühend heißen Shit zusammenkomponieren kann, in diesem Fall eine unbedingt magische Melange aus Shaft-Soul, Seventies-Funk und Elektro-House-Blues. Hört hier hinein: „Mash Up The Sound“ (treibende Jazztrompete mit Disko-Funk-Gitarre im Wettstreit, klingt nach einem sich auf die Tanzfläche von Saturday Night Fever verirrten Miles Davis), „Hypnotise“ (Tanznummer mit Samples der Afrobeat-Legende Dele Sosimi) sowie „Sometimes I Wonder“ (Breitwand-Soundtrack für noch nicht gedrehte Tarantino-Filme mit dominanten Drums, Bluessamples und wohlplatzierter Wurlitzerorgel.)
Label: Jalapeno Records
Format: CD, LP, DL 16/44