Professor P.’s Rhythm and Soul Revue
Professor P. entspannt heute in seinem Schaukelstuhl, den dreibeinigen Kater im Schoß und den einäugigen Alligator zu Füßen. Dazu laufen neue Werke von The Allergies, Fantastic Negrito, Lady Wray, Eli Paperboy Reed und Tami Neilson.
Unten schleppte sich der Fluss träge gen ferne Meere. Der Himmel kippte in ein dunkles Orange-Rosé, allmählich von der Dämmerung übertüncht. Ein schweres Schiff schob sich hinter Schattenrissen von Bäumen durchs Bild. Die hell erleuchtete Brücke schwebte über den Umrissen der Containertürme wie ein Zeppelin aus vergangenen Tagen. Davor zog eine von tausend Lämpchen geschmückte, auf Mississippi-Dampfer getrimmte Hafenbarkasse eine schaumige Spur durchs schwarze Wasser. Oben am Hang saßen der Professor und Mr. T. auf einer Parkbank. Im Rücken ein Vorstadtviertel, vor uns, weit unten, der Fluss. Zwischen den Bäumen jagten Fledermäuse die Abendmücken. Die Luft duftete noch nach dem warmen Frühsommerschauer, der uns zuvor überrascht hatte. Jetzt war die Bank getrocknet, wir saßen beisammen, ein Bier in der Hand und die Boombox zwischen uns. Die Musikauswahl war einem Algorithmus überlassen, der uns mit Soul, Blues und Elektronikbeats unterhielt. Hin und wieder schielten wir aufs Display, wenn ein Song besonders gefiel. Ab und zu tanzte ich ein paar Schritte. Niemand sah zu, der Abend war freundlich, warum nicht? Mit einem Mal groovte es plötzlich besonders. Piano-Beats, one, two, one, two, three, four, elektronische Drum-and-Bass-Grundierung, darauf ausgebreitet eine uralte Stimme: “You know, God walked down, in the cool of the day, called Adam by his name…” Well, my friends, wem das bekannt vorkommt, vor dem zieht der Professor seinen Hut. Denn das ist eine schöne, wenngleich auch fern dem Mainstream verortete Songzeile aus „John The Revelator“ von Son House, dem großen Folk-Blues-Paten, der einst als Vorbild für Muddy Waters und Robert Johnson diente. Hier nun wird seine raue, raspelnde Stimme von zwei englischen Sample-Künstlern aus Bristol in ein tanzbares, das alte Erbe des Blues ehrendes Stück postmoderner DJ-Kunst verwandelt. So etwas weckt die Neugierde des Professors. Stay tuned.
The Allergies – Promised Land
Dass die beiden aussehen wie Mark Foster, inkl. Kappe, Bart und Werberbrille, sowie dessen Biobauernhof betreibender Cousin aus Elmshorn oder Pfaffenhofen, das will der Professor ganz schnell in die Recyclingtonne für irreführende Assoziationen hauen. Die Produzenten und Sample-Künstler Rackabeat und DJ Moneyshot nämlich stammen vielmehr aus Bristol, von wo aus sie in den vergangenen Jahren die Tanzflächen der wilden, weiten Welt eroberten. Nach Lehrjahren als Hiphop-DJs mit umfangreicher Vinylsammlung komponieren sie unter dem Namen „The Allergies“ nun eigenes Songwerk und kreieren dabei eine unbedingt tanzbare Melange aus Shaft-Soul, Seventies-Funk und Elektro-House-Blues. Die bewusstseinserweiternde Wirkung von „God Walked Down“ aus dem Plattendebüt As We Do Our Thing von 2016 (zuvor auch auf der EP Kickin’ Up Dust erschienen) habe ich Euch ja schon beschrieben. Mit Promised Land ist nun das bereits fünfte Album in sechs Jahren erschienen, englische Arbeiterjungs halt. Das neue Werk mag ich Euch nur wärmstens empfehlen für sonnige Herbst- und nach Bedarf verregnet-vernebelte Frühwintertage, wenn Euch der Blues am Schlafittchen packen sollte und Ihr ein wenig aufmunternde Unterbodenbelüftung vertragen könnt. The Allergies haben in ihrem südwestenglischen Soundlabor ein schräges Dutzend Tanzboden-erzitternde Songs aus allerlei trefflichen Zutaten zusammengemorpht, Freunde, da zucken sogar die fetten Brummer an den Fliegenfängern noch mit den vertrockneten Beinchen. Hört hier mal rein: „Love Somebody“ (Breitwandsoul mit funky Bläsergewitter und feinem Scratching), „Promised Land“ (Soul-House-Opus mit Anleihen bei Moby und Fatboy Slim) und „Utility Man“ (Retro-Rap-Hommage mit Andy Cooper am Mikrofon, Frontrapper bei Ugly Ducking aus Los Angeles, den 90er-Jahre-Legenden mit Kulturinteresse, die sich einst nach dem Hässlichen Entlein von Hans Christian Andersen benannten.)
Fantastic Negrito – White Jesus Black Problems
Ja, da bebt die Pumpe hinter des Professors morschen Rippenbögen. Man schwingt die alten Knochen von der Chaiselongue und zaubert einen verwackelten Shuffle aufs holzwurmzerfressene Parkett, Freunde, das Leben hat uns wieder. Bei einer Handvoll Musiker werde ich regelrecht nervös, wenn sich eine Neuveröffentlichung andeutet, der manisch-geniale Fantastic Negrito gehört dazu. Mit tremorigen Fingern nestelte ich eben die neue CD ins Gerät: ächz, seufz, freu und hechel, um ein paar von Dr. Erika Fuchs kreierte Inflektive auszuleihen. Das Werk startet mit einem Song, „Venomous Dogma“, der von den Beatles aus deren Sgt.-Pepper-Phase stammen könnte, aber nur bis zum Refrain “Locked Down in this hole, ohh it be so lonely”, da Xavier Amin Dphrepaulezz aus Oakland, Kalifornien alias Fantastic Negrito den Beschleuniger anwirft und das Stück in eine fanatisch röhrende Welt aus Gospel, Funk, Rock, Soul und Punk überführt. Mit „Highest Bidder“ geht’s weiter in der Grauzone zwischen nervösem Funk-Jazz und manisch-depressivem Atonal-Folk. Weiter, weiter: „They Go Low“ pingpongt zwischen postmodernem Ghetto-Soul und dem Gospel-Blues der Apokalypse. Schließlich: „Man With No Name“, ein wild waberndes Funk-Opus mit Hardrock-Refrain und Gospel-Grundierung. White Jesus Black Problems ist ein kreatives, jede Sekunde überraschendes Meisterwerk, inklusive Chain-Gang-Chören, Afro-Rhythmen, Funkgitarren, Moog-Synthesizer und alter Yamaha-Transistororgel … Eine Auseinandersetzung mit dem Amerika des 21. Jahrhundert, eine Rückschau auf knapp 300 Jahre Familiengeschichte, da einst ein Ur-Ur-Urgroßvater des Künstlers, ein schwarzer Sklave, eine Beziehung mit einer weißen Dienstmagd aus Schottland einging … Wer mehr über Fantastic Negritos Leben & Schaffen erfahren möchte (Drogendealer, Unfall, Koma, Biogemüsebauer, Straßenmusiker, Youtube-Phänomen, drei Grammy Awards, Labelbegründer …), der lese bitte das fantastische Fantastic-Interview in FIDELITY Nr. 51.
Lady Wray – Piece Of Me
Ein bisschen verliert der Professor den Überblick, was da so in Brooklyn im Daptone-Universum passiert, aber das macht ja nichts. Irgendwie gründet jeder der vielen Studiobetreiber mal ein Schwesterlabel, es gibt zum Beispiel noch Wick Records, Ever-Soul Records und Dunham Records, aus Soul Fire Records wurde Truth and Soul, daraus entwickelte sich Big Crown Records, so meine ich der Spur korrekt gefolgt zu sein. Jedenfalls freue ich mich immer, wenn wieder einmal etwas Neues aus diesem Kosmos in meinem Schoß landet, von Platten von El Michels Affair, The Budos Band, natürlich Sharon Jones und Lee Fields habe ich Euch in der Vergangenheit gerne berichtet. Und heute reihe ich Piece Of Me von Lady Wray in diesen Stammbaum der in New York produzierten Neo-Soul-Künstler ein. Das zweite Album bei Big Crown, nach dem 2016er Debüt Queen Alone, ist ein feines, tief im R’n’B verwurzeltes Werk, allerdings in der Pop- und Hiphop-Auslegung dieser oft missverständlich genutzten Abkürzung. Was dem Produzenten Leon Michels, einst Begründer der Band Sharon Jones & The Dap Kings, gut gelang: die Wurzeln von Lady Wray im tatsächlichen Rhythm and Blues erahnen zu lassen. Denn die lagen, trotz Jugend im Gospelchor, lange verborgen. Als 15-Jährige durfte Nicole Wray in der Band von Missy Elliot singen, hatte noch als Teenager mit „Make It Hot“ einen Top-Ten-Hit, schleppte sich aber dann eher desillusioniert durchs Business, bis sie 2010 im Backgroundchor von Lee Fields den Einstieg in die Daptone-Welt schaffte. Das zweite Album auf Big Crown nun bietet warmen Siebzigersound, freundliche Basslinien, sanfte Uptempo-Beats, markante Grooves. Alles sauber und glatt produziert wie ein Jamiroquai-Album. Dem Professor gefällt’s, auch wenn es mich nicht aus dem Schaukelstuhl gerissen hat, muss ich sagen. Wer aber neues High-End-Equipment testen mag, dem sei dieses Werk auf jeden Fall empfohlen.
Eli Paperboy Reed – Down Every Road
Wenn der Professor in seinen alten Station Wagon steigt und die Pferdchen antreibt, dann spielt, Manie des Infotainmentsystems, eine immergleiche Best-of-Playlist der auf meinem Mobiltelefon abgespeicherten Songs ab. An Position eins stehend, vom Algorithmus bestimmt und somit bei jeder Fahrt begrüßend erklingend: „A New Song“ von Eli Paperboy Reed. Mittlerweile hat sich bei mir eine gewisse Müdigkeit hinsichtlich des 2019 veröffentlichten und hier besprochenen Albums 99 Cent Dreams eingestellt, gepaart mit Frust über den mir innewohnenden Mangel an Techniksachverstand, diese musikalische Murmeltier-Endlosschleife stoppen zu können. Insofern hat die Veröffentlichung eines neuen Albums von Eli Paperboy Reed schon fast therapeutischen Wert für den Professor, zumal Down Every Road ein besonders gelungenes Werk ist. Der so vielseitig begabte Soul-Shouter aus Boston, bürgerlicher Name Eli Husock, der seine Liebe zum Rock’n’Roll auf vergangenen Alben auslebte, widmet sich hier dem Country-Œuvre des unvergessenen Merle Haggard. Offenbar lag sein Vater, Husock senior, der ein paar sehr rührende Liner Notes für Down Every Road verfasste, seinem Sohn seit Jahr und Tag damit in den Ohren. Kinder, hört auf Eure Väter, zumindest ein- bis zweimal im Leben! Wie Eli Paperboy Reed, der einst als weißer Twen, Typ Highschool-Quarterback, nach Clarksdale, Mississippi umzog und dort den Blues in namenlosen Juke Joints erlernte, später als Musical Director einen schwarzen Gospelchor in Chicago leitete, sich hier nun recht ehrfürchtig in den Originalarrangements von Haggard bewegt und diese dennoch mit funky Soul im Stile alter Stax-Aufnahmen auf den Kopf stellt, man-oh-man, that’s freakin’ fantastic. Haggard, 2016 verstorben, Ende der 50er als Insasse von San Quentin im Publikum von Johnny Cashs erstem Gefängnis-Konzert und später Autor von knapp 40 Nummer-eins-Hits in den amerikanischen Country-Charts, würde sich über die Neuinterpretierung seiner Klassiker sicher freuen. Wie der erst knapp 40-jährige Reed „Mama Tried“, „I’m Bringing Home Good News“ und „Working Man Blues“ in swingenden Soul übersetzt und die professoralen Boxen zum Tanzen bringt, das ist große Kunst. Und auch den Country-Schmelz hat Mr. Paperboy im Repertoire: Bei der Neugestaltung von „I’m A Lonesome Fugitive“ (den Haggard zwar gerne spielte, komponiert aber wurde der Song von Liz Anderson, bekannt auch für den Welthit „Rose Garden“, den sie für ihre Tochter Lynn Anderson schrieb) weint der Verstärker des Professors vor Rührung.
Tami Neilson – Kingmaker
Der Professor sitzt auf seiner Sumpfveranda. Aus den Boxen wehen magisch klingende Weisen in die Abenddämmerung. Zeitgemäß, zugleich zeitlos-traditionell. Voodoo en vogue, so-to-say. Der dreibeinige Kater zuckt schnurrend mit den Krallen im Schoß. Die Trauerweiden wiegen sich in einer milden Böh. Der einäugige Alligator wippt schlapp mit dem Schwanz und zwinkert mir zu. Well, well, well… Man könnte meinen, Tami Neilsons Album Kingmaker sei in einem Studio deep down south aufgenommen, irgendwo tief im Delta des Ol’ Man River. Tatsächlich war’s extremely deep down south, in Neuseeland nämlich. Langjährige Leser unserer kleinen Ryhthm and Soul Revue wissen das, verneigte ich mich doch bereits vor vielen Monden vor dem Schaffen von Tami Neilson. Achtung, Rückspul-Klammern: (Neilson spielte als Tochter der kanadischen Familienkapelle The Neilsons Country up and down the road, wurde als Baby von Roy Orbison gewiegt, spielte mit zehn an der Seite von Country-Queen Kitty Wells, eröffnete im Schlafanzug – warum, konnte der Professor nicht herausbekommen – für Johnny Cash … Die Liebe führte sie schließlich nach Neuseeland, wo Tami Neilson als Straßenmusikerin neu anfing, einen Polizisten heiratete, zwei Kinder bekam, mittlerweile fünf Alben aufnahm und in der südlichen Hemisphäre heute als Country-Soul-Star gilt, tja, das Schicksal ist ein schöner Geschichtenerzähler.) Das nun hier warm empfohlene fünfte Album also wurde in Auckland im Studio von Neil Finn eingespielt, manch musikhistorisch gebildetem Leser als Sänger/Komponist von Crowded House („Don’t Dream It’s Over“) bekannt. Ach, Freunde, ich wünsche mir, dass Ihr dem Werk Gehör schenkt: Eine feine Mischung aus Soul, Rockabilly, Gospel und moderner Independent-Rhythmik. Dazu ein Manifest für Frauenpower, hört ruhig mal mit gespitztem Ohr zu. Anspieltipps: „Kingmaker“ (der Titelsong klingt in seiner beschwörenden Western-Charakteristik wie ein Hidden Track vom Kill Bill-Soundtrack: Yeah!), „Careless Woman“ (Verwirbelung von Drums, Handclaps, Cello und Klarinette) und „Beyond The Stars“ (Duett mit Willie Nelson: Der Song ist Nelsons verstorbener Schwester Bobbie sowie Neilsons kurz zuvor verschiedenem Vater gewidmet, der im Übrigen ein großer Willie-Fan war und nun auf Wolke sieben eine Träne der Rührung auf sein himmlisches Banjo tropfen lässt. Schön.)
(Mississippi, umweht von einer frischen Brise des Berner Oberlands).