Professor P.’s Rhythm and Soul Revue – Schmetterlinge auf Ecstasy
Der Professor verdrängt die Gegenwart mit Musik von Nathaniel Rateliff & The Night Sweats, Handsome Jack, Adia Victoria, The Buttshakers, The Superhighway Band sowie Shawn Lee & Bei Bei.
Und alle Jahre wieder sitzt der Professor fasziniert vorm Bildschirm und sinnt nach über die Merkwürdigkeiten des Raum-Zeit-Kontinuums. Während ich also einmal mehr diesseits des Jahresendes feststecke, bewegt Ihr Euch schon in den Zeitströmen des jenseitigen Morgens. Gerne würde ich meinerseits einen Blick durchs Wurmloch riskieren und mich über den Zustand des Gemeinwohls im künftigen Frühjahr informieren. Denn im Hier und Jetzt wallt der Groll hinter des Professors mangrovenbewachsener Brust. Zu lange schon stecken wir in semiapokalyptischen Zuständen fest, müssen wir uns Tag für Tag mit dem kakofonischen Dumpfdampf falschverlöteter Verschwörungspraktiker auseinandersetzen … Aber halt, bevor ich mich hier kopflos dem Zorn anvertraue, meditiere ich mich mal lieber in viel schönere Erinnerungswelten. Vor wenigen Tagen zum Beispiel klingelte ich zu später Stunde Mr. T. aus seiner Höhle im Nachbarhaus, für ein paar Outdoor-Feierabendbierchen, eine kleine Blauzahn-Boombox, gespeist mit meiner privaten Musikbibliothek. Bei jedem Konzert, das der Professor, oh sweet Lord, einst besuchte, nahm er einen Song mit der Kamera des Hosentaschentelefons auf. Und so saßen wir da, die Klongs, Bongs und Bangs aneinanderrasselnder Hafencontainer im Hintergrund, und schauten uns Zeugnisse vergangener Zeiten an. Unter anderem eine Aufnahme von „Kiss The Sky“, achtminütige Zugabe meines letzten Konzerts vorm ersten Lockdown. Shawn Lee spielte in einem Keller im Rotlichtbezirk, ich erzählte schon einmal davon. Ach, eine Träne der Rührung, eine zweite der Verzweiflung stahl sich aus dem obersten Knopfloch des Wintermantels … Those were the days. Wie schön aber, dass wir uns heute ganz gegenwärtlich mit Shawn Lee befassen, verehrter Lesezirkel dieser kleinen Rhythm and Soul Revue. Mit jenem Mann, der Funk, Folk und Soul in immer wieder wechselnden Projekten zu einem wunderbaren Funkfolksoul zusammenführt. Ihm widme ich, in Gedenken an die alten Tage, ein kleines Double Feature. Stay tuned!
Bevor wir aber abbiegen ins wundersame Paralleluniversum des Shawn Lee, lasst uns noch ein paar Meilen geradeaus cruisen. Fenster runter, Arm raus, Sonnenbrille auf. Tumbleweed weht über den Highway, der rote Staub endloser Steppen verklebt uns die Kehle. Ja, der Professor traumwandelt durchs Land der Sehnsüchte, und Ihr dürft auf der Pritsche meines Pickups mitreisen. Seht Ihr den Roadside-Saloon da drüben? Großes Steak, kaltes Bier, gute Musik, das ist der Plan. Auf der Bühne: Handsome Jack, jenes Trio, 2001 noch an der Highschool gegründet, von dem ich Euch in vorvergangenen Tagen schon einmal erzählte. Homemade Boogiesoul, Geradeausblues mit Südstaaten-Grease, Garagen-Rock mit Gospeltouch, ja, sucht Euch eine passende Schublade aus, da macht man nichts falsch. Zwar kommen Handsome Jack tatsächlich aus dem eher im Norden liegenden Städtchen Lockport im Staate New York, gleich um die Ecke von den Niagarafällen. Doch was einem die drei Zottelbärte mit Bass-Gitarre-Schlagzeug auf maximal medium-sized Bühnen zwischen New Orleans und Portland um die Ohren hauen, das ist so ehrlich und unprätentiös wie ein texanisches T-Bone-Steak mit Backkartoffel. Und bevor uns hier die amerikanischen Klischees Knoten in die Synapsen drehen, will ich nicht mehr viele Worte verlieren. Get Humble, das dritte Album von Handsome Jack auf dem ehemaligen Black-Keys-Label Alive Natural Sound Records, ist ein gnadenlos attitüdenbefreites Bluesrock-Album mit schrundigen Sumpfgitarren, psychedelisiertem Southern Soul und … Ach, geht rüber zum Merch-Stand neben der Bar und kauft Euch das Album. Und bringt mir auf dem Rückweg ein Bier mit.
PS: Wer Freude an aus dem Zusammenhang gerissenen Informationen hat: In Lockwood, benannt nach den Schleusen, die einst die Wasserstände am Eriekanal regelten, erfand der Sportwissenschaftler William G. Morgan 1895 im Alter von 25 Jahren das Volleyballspiel.
Ich mag das ja, wie er da in irgendwie zu engen Westernhemdchen durch die Welt schreitet, die gemütliche Plauze überm Gürtel und im weichen Gesicht einen krausen Bart. Selbst Musikvideos können nicht verbergen, dass Nathaniel Rateliff kein Posterboy des New Americana ist, kein Country-Haudegen und auch kein smarter Soulshouter. Er sieht aus, wie er aussieht, zu gleichen Teilen zerknautscht und milchgesichtig, in der Schnittmenge recht sympathisch. Seine Stimme ist das, was zählt, und sein abwechslungsreiches Songwriting. Seit 2007 nimmt Rateliff Platten auf, seit er dem ländlichen Missouri entfloh und in Denver, Colorado eine neue Heimat fand. Mit 14 hatte er die Schule geschmissen, sich als Gärtner und Fabrikarbeiter durchgeschlagen, schließlich mit seiner damaligen Band The Wheel das Debüt Desire And Dissolving Men veröffentlicht. Seit nunmehr zehn Jahren ist er nun mit The Night Sweats unterwegs, ein kleiner Hit, „S.O.B.“, wurde auf Spotify mittlerweile weit über 130 Millionen Mal aufgerufen. Nach schwierigen Jahren, in denen er einen Kumpel an den Alkohol verlor, fast selbst dran glaubte und eine Ehe zerbrechen sah, legt Rateliff nach einem eher ruhigen Soloalbum (And It’s Still Allright) im Jahr 2020 nun mit The Future ein fulminantes Werk vor, das den rauen Soul der Sechziger, den vollen Motownfunk der Siebziger und die Americana-Sounds der Zweitausender zu einem extrem groovenden Gesamtkunstwerk verschmilzt. Veröffentlicht wurde die Platte auf dem vor einigen Jahren wieder ins Leben zurückgeholten Stax-Label, auf dem früher Otis Redding, Eddie Floyd und Wilson Pickett Musikgeschichte schrieben. Anspieltipps: „The Future“ (Folkrock, bei dem Rateliff singt wie Bob Dylan, nur mit mehr Dampf in der Kehle), „Survivor“ (trockener Brooklyn-Beat-Soul mit Extra-Bläserpower) und „Love Me Till I’m Gone“ (sanft pumpende 60s-Piano-Shuffle-Ballade).
PS: Noch ein Faktum? Nathaniel Rateliff designte eine E-Zigarette für den Cannabis-Genuss, die als Nightstache Collection über das Unternehmen Willie’s Reserve vertrieben wird. Und das gehört, natürlich, Willie Nelson.
Vor der alten Shotgunbude des Professors stand deep down south eine Magnolie, in deren Schatten ich meinen morschen Schaukelstuhl geparkt hatte und in der Schwüle des Südens den dreibeinigen Kater kraulte. Wenig wusste ich in jenen Tagen, da der Blues mir ins Gebein gefahren war, von der ambivalenten Symbolik jenes so unschuldig zartrosé blühenden Baumes. Er steht für Romantik, für weibliche Anmut – kein Wunder, dass es mich in den Garten zog, hatte mir doch ein Weib seine Zuneigung entzogen, sodass ich angeschossen durch die Sümpfe stolperte. Später lernte ich, dass die Magnolie in rückwärts orientierten Kreisen für die verlorene Sache der Konföderierten steht. Für die Sklaverei und Plantagenwelt, für eine sehr selektive Südstaaten-Erinnerungskultur. Insofern ist das neue Werk von Adia Victoria ein wichtiger Beitrag in Zeiten, da Teile der Südstaaten noch immer mit feuchten Augen verklärend zu Statuen des Konföderierten-Generals Robert Edward Lee aufschauen. „Magnolia Blues“, so verriet die Sängerin zur Single-Veröffentlichung des ersten Titels, sei die „Rückeroberung der Magnolie“, eine „Ode an den wahren Süden“ und die schwarze Kultur. Sie schrieb die Songs mit Blick auf eben einen Magnolienbaum, der vor ihrem Fenster in Nashville, Tennessee stand, als die Welt sich im Lockdown befand. Ein politisches Album, aber auch ein wunderschönes Werk des Blues. Adia Victoria dekonstruiert alte Rhythmen, lässt Mandoline und Akustikgitarre sanfte Töne anschlagen zu dunklen Drumbeats und grollender Hammondorgel. Produziert wurde A Southern Gothic von T Bone Burnett, der in den Siebzigern für Bob Dylan Gitarre spielte und als Produzent die Soundtracks von O Brother, Where Art Thou? und The Big Lebowski betreute. „Gothic Blues“ nennt die Künstlerin ihr Schaffen, und wer dieses dritte Album von Adia Victoria hört, wird verstehen, warum.
Was tut man, da die meisten Bühnen erneut vernagelt sind und manch Mitbürger mit verhagelter Hypophyse unterm Skalp wüsten Verschwörungstheorien anheimgefallen ist? Ich für meinen Teil schlucke Kummer und Zorn herunter und begrabe sie an der Biegung meines Bewusstseinsstroms. Zappte ich mich also durch die Weiten digitaler Welten und landete bei einem Rockpalast-Konzert, aufgenommen 2015 in Bonn. Band: The Buttshakers. Freunde, Freunde: Funk und Soul mit Bläserbreitseite und gut gelaunter Sängerin – der Professor tanzte um die mit dem Laptop verlinkte Bluetoothbox. Ein, zwei Rechercheausflüge später weiß ich: Band aus Lyon in Frankreich mit Frontfrau aus St. Louis, wo eben jene Ciara Thompson als Scheidungskind zwischen irisch-katholischem Vorort-Haushalt und schwarzem Crack-Getto pendelte. Landete fürs Literaturstudium in Frankreich und heuerte vor gut zehn Jahren bei den Buttshakers an. Northern Soul mit Südstaaten-Infusion, Funk mit Akzent, Sharon Jones meets Sly & the Family Stone … Wie praktisch dann, dass die Buttshakers jüngst ihr neues Album veröffentlichten. Arcadia gewährt einen kritischen Blick aus der Ferne auf ein von seltsamen Mächten gebeuteltes Amerika. Hört Euch also ruhig auch die Texte an, das ist erhellend. Vor allem aber sind die Songs tanzbar, und das ist es, was der Professor jetzt braucht. Zum Einstieg zwei Anspieltipps: „Back In America“ ist ein slow groovendes Funk-Dings mit verschlepptem Balladen-Beat und heißem Bläseratem im Nacken. „Night Crawl“ klingt mit Slowsurfgitarre, verschwörerischen Voodoo-Sounds und good ol’ Gospelgesang wie ein nie eingesetzter Bond-Song in Zeitlupe.
PS: Für Rockpalast-Interessierte: Höhepunkt des Konzerts, komplett subjektiv, ist der herausragende Slowfunk „Betty Day“ ab Minute 47:10.
Und jetzt zum versprochenen Shawn-Lee-Double-Feature. Wer den Mann nicht kennt: Shawn on you, folks! Lee, im mittleren Westen der USA aufgewachsen und heute in London zu Hause, trägt einen wahren Heritage-Cocktail in den Adern. Die Mutter hat libanesische und amerikanisch-indigene Vorfahren, der Vater irische. Shawn Lee nun würdigt seinen Ahnen-Mix mit einem grandios überladenen Portfolio verschiedenster Musikprojekte. Mit seinem Ping Pong Orchestra etwa covert er sich durch die Popmusikgeschichte, mit Young Gun Silver Fox praktiziert er entspannten Singer-Songwriter-Softrock. Zuletzt berichtete ich von seinem Soloalbum Rides Again, ein wundersam-zartes Folk-Funk-Album. Nun hat er mit seinem langjährigen Mitstreiter Nichol Thompson, einem in der Stilistik der 80er Jahre geschulten Promi-Posaunisten (The Eagles, Level 42, Grace Jones), ein Album des skurrilen Genres Yacht Jazz aufgenommen. Man nennt sich „The Superhighway Band“, in Anlehnung an Steely Dans Meisterwerk Aja aus dem Jahr 1977, auf dem der Song „Home At Last“ mit den Worten „I know this super highway, this bright familiar sun…“ beginnt. Und auch die Superhighway Men spielen auf ihrem Debüt Studio City höchst entspannten Westcoast-Folkpopfunk, schön neonfarben im Frühachtziger-Sound. Posaunen-Power trifft Plastik-Pop trifft exquisites Songwriting. Als Gastmusiker wurden ein paar Bläserhelden der Gegenwart verpflichtet. Googelt gerne mal: Tom Walsh, Nigel Hitchcock und Sean Freeman, dazu gesellt sich Sting-Keyboarder Jim Watson.
Bei der Recherche zu Shawn Lee fiel dem Professor dieses Werk in den Schoß: Year Of The Funky, das zweite Kooperationsalbum mit der chinesischen Guzheng-Spielerin Bei Bei. Die Platte ist zwar schon zwei Jahre oder so alt, doch ich bezweifle, dass die Mehrheit von Euch darüber Kenntnis besitzt. Wie hier die fremd klingen Sounds des chinesischen, seit rund 2500 Jahren gespielten Saiteninstruments Guzheng auf Lees Funk-Bass treffen, das erfreut das Herz des Forschungsleiters des Fachbereichs Groove-Ethnologie an der University of Free Funk, Professor P. Bei Bei wiederum studierte in Peking und Kalifornien traditionelle Musik und Jazz und betreibt heute eine Musikschule an der Westküste Amerikas. Lee, der schon mit Künstlern wie Robbie Williams, Amy Winehouse und Tony Joe White arbeitete, Songs für die Netflix-Serie House Of Cards sowie für Werbespots von BMW und Head & Shoulders komponierte, hat mit den Jahren ein bewundernswertes Gespür für die Kraft der Kunst von anderen entwickelt. Year Of The Funky klingt wie eine digitalisierte Mingvase, if you know what I mean. Falls not, excuse my Kauderwelsch, biete ich als Alternativ-Metapher noch wahlweise „Schmetterlinge auf Ecstasy“ oder „altchinesische Houseparty“ an.