Procol Harum – In Held Twas In I
Zum Progrock gehören Tempowechsel, Klassik- und Jazzanklänge, umfangreiche Instrumentalteile und überraschende Instrumente. Weil das alles zusammen kaum in einen Drei-Minuten-Song passt, gibt es den Longtrack.
Natürlich hatten Procol Harum nie einen experimentellen 17-Minuten-Song geplant. Schließlich war Shine On Brightly der wichtige zweite Longplayer, da sollte wirklich nichts schiefgehen. Aber als das Album in groben Zügen konzipiert war, meldete sich Matthew Fisher, der Organist und eigentliche „Klassiker“ in der Band, und meinte, er sei beim Songwriting zu kurz gekommen. Diesen Protest musste man ernst nehmen, denn Fisher war ohnehin schon frustriert, weil er beim großen Hit „A Whiter Shade Of Pale“ nicht als Mitautor genannt worden war. (Der Rechtsstreit um seine Anteile an diesem Song sollte sich bis zum Jahr 2006 hinziehen.) Also beschlossen Keith Reid und Gary Brooker, mit Fisher zusammen etwas Gemeinsames durchzuziehen. „Alle Ideen waren schon vorhanden, als wir ins Aufnahmestudio gingen“, erzählte Brooker später. „Aber die Suite war nicht komplett. Wir wussten nicht, was geschehen würde.“
Den Anfang macht eine absurde kleine Story über den Dalai Lama. Solche Zen-Geschichten kursierten damals, östliche Religiosität lag im Trend. Keith Reid hatte die fiktive Anekdote in einem Lokal aufgeschnappt: „Alles begann im Baghdad House in der Fulham Road.“ Fisher und Brooker legten etwas Musik darunter, ein angedeutetes „Om“, eine angedeutete Sitar, kurzum: Sie machen sich hier ein wenig lustig über Zen-Weisheit und Spiritualität. Der kleinen Rezitation (Brooker liest) folgt eine zweite (ab 3:36), ein etwas prätentiöses, gereimtes Gedicht (Fisher liest), offenbar ebenfalls ironisch gemeint. „Glimpses Of Nirvana“ heißt dieser erste Teil mit den zwei Rezitationen.
Danach reihen sich praktisch drei Songs aneinander: „’Twas Teatime At The Circus“ (ab 4:45), „In The Autumn Of My Madness“ (ab 6:06) und „Look To Your Soul“ (ab 10:48). Es sind typische (und überdurchschnittlich gute) Procol-Harum-Songs. Der erste ist eine lustige Blödelei mit Zirkusmusik und Jahrmarktsstimmung und einer textlichen Anspielung auf Jimi Hendrix. Der zweite (gesungen von Fisher) und der dritte (gesungen von Brooker) haben den gewohnt melancholischen Balladencharakter. Und dann gibt es noch Fishers „Grand Finale“ (ab 13:55), eine etwas triumphale, klassisch angehauchte Instrumental-Fantasie, sogar mit Chor. Fisher spielt hier auch Klavier, und Robin Trower liefert eines seiner starken, aggressiven Gitarrensoli ab.
Aber, wie gesagt, geplant war das so nie. Einen Titel gab es auch nicht, daher reihte man einfach das jeweils erste Wort jedes Textteils sinnfrei aneinander: „In Held Twas In I“. Dem Tontechniker fiel die Aufgabe zu, Übergänge zwischen den Parts zu schaffen – mit Glockenschlägen, Trommelwirbel, Gewitterdonner, Regengeräuschen, Stimmen, einem Martinshorn. Außerdem spielte die Band kleine instrumentale Rock-Episoden, zum Beispiel zwischen den Rezitationen oder zwischen den beiden Balladensongs. „Als es fertig war, hörten wir das Ganze zum ersten Mal nachts im Studio. Es war gewaltig.“ Aber auch verwirrend. Denn suitenartige Longtracks dieser Art kannte man 1968 noch nicht. Die Plattenfirma war ziemlich ratlos: Kunst oder Satire? Dem Longtrack jedenfalls verdankt Shine On Brightly das Image einer „verrückten psychedelischen Platte“. Keith Reid meinte einmal: „Sie erschien zu einer Zeit, als niemand sie verstand oder zu schätzen wusste.“
Shine On Brightly von Procol Harum auf JPC.