Die große Kleine mit dem Super-Dreh
Die Kleine hier hat fast alles, kann fast alles – kostet aber nicht die Welt. Was ist sie? Eine highendige Kombizange für verwöhnte Plattenspieler?
Mit dem alten Kalauer „Eine Kombizange kann fast alles fast“ tut man der Phono Box RS von Pro-Ject komplett unrecht. Obwohl sie als Schnittstelle zwischen Plattenspieler und Verstärker tatsächlich universell einsetzbar ist. Doch statt mit einer Kombizange sollte man sie vielleicht besser mit einer Wundertüte vergleichen. Denn sie kann nicht „fast alles fast“, sondern unheimlich viel unheimlich gut. Die vorzüglichen inneren (Mess-)Werte sprechen ebenso für sie wie eine ganze Reihe äußerst praktischer, wahrlich highendiger Ausstattungsdetails, die es in dieser Dichte und zu diesem Vorzugspreis wohl nirgendwo sonst gibt. Allerdings posaunt die dezente Phono Box RS ihre enormen Talente nicht jedem Plattenspieler (also jedem, der noch Platten abspielt) direkt ins Gesicht. Stattdessen hält sie sich erst einmal vornehm zurück.
Damit empfiehlt sich das Böxchen, das es übrigens auch in Schwarz gibt, beispielsweise als ideale Ergänzung zur jüngsten Plattenspieler-Offerte des Hauses (Pro-Ject Xtension 10 Evolution SuperPack, siehe FIDELITY Nr. 11), passt aber auch zu allen anderen guten Tonabnehmern.
Wie gut diese Phonostufe tatsächlich ist, lässt sich mit ein bisschen Erfahrung schon an Erscheinungsbild und Haptik festmachen. Die Kleine kommt im typischen „großen“ Vollmetall-Design der gehobenen Box-Serie – erkennbar am RS-Kürzel – daher: dicke Frontplatte in massivem Aluminium, klassische Proportionen und erstklassige Ausstattung. Und ähnlich wie bei besagtem Plattenspieler gilt auch hier: Käme das Maschinchen aus den USA und hätte ich davon nur ein Foto zur Hand, würde ich es ohne weiteres als Fullsize-Vollverstärker durchwinken. Dann wäre alles klar: 45 Zentimeter breit, mindestens 15 Kilo schwer, bestückt mit dicken Kippschaltern und einem satt laufenden, kaffeetassegroßen Volume-Steller. Preis? Vielleicht drei-, eher fünftausend Euro …
Tatsächlich aber kommt die nur 20 Zentimeter breite, aber immerhin doch zwei Kilo schwere Phono Box RS aus Österreich. Sie rundet das pralle Pro-Ject-Portfolio von Phonoentzerrern (zehn Modelle!) nach oben hin ab – und das ohne jede Röhre.Schnittstelle ohne Glas
Oft genug ist ja zu hören, der einzig wahre Weg zum highfidelen Glück führe mitten durch den großen Röhrenwald, alle anderen Wege verliefen „im Sand“ – so oder so. Mehr noch, ohne Einsatz von Röhren sei eigentlich gar kein echtes Musikhören möglich …
Das mag als Maxime einiger Audio-Extremisten durchgehen und besitzt ja auch einen gewissen Charme, insbesondere im unmittelbaren Umfeld von Old-School-Technik wie Plattenspieler, Tonabnehmer und Vinyl. Ganz grundsätzlich aber ist das schockstarrhafte Beharren auf „Röhre um jeden Preis“ ein ziemlicher Unsinn. Zugegeben, auch Pro-Ject bietet zahlreiche röhrenbestückte Gerätschaften an, sogar bei den „kleineren“ Phonoentzerrern sind zwei Modelle dabei (und wenn ich so in die Runde meiner eigenen Komponenten schaue, ist’s da auch ziemlich glaslastig). Letztlich zählt aber immer das Gesamtpaket, die gekonnte Verknüpfung von Kenner- und Könnerschaft plus optimiertem Materialeinsatz.
Im konkreten Fall bedeutet das: sinnvolle, nein, luxuriöse Komplettausstattung statt (vergleichsweise simplem) Röhren-Boost in der Ausgangsstufe. Eine vernünftige Kalkulation und hoher Fertigungsstandard standen im Pflichtenheft selbstverständlich wieder ganz oben, daher wird Pro-Ject auch eine respektable Stückzahl an die Audiophilen dieser Welt verkaufen können. Denn die opulent ausgestattete und wirklich erstklassig verarbeitete Phonostufe ist sehr deutlich in der dreistelligen Preisregion angesiedelt: Für äußerst überschaubare 840 Euro bietet die Phono Box RS ein analoges Wohlfühlpaket, das schlichtweg alles schlägt, was ich bisher unterhalb von, sagen wir 2000 bis 3000 Euro kennengelernt habe.
Einmal alles‚ bitte (Teil 2)
Bevor es überhaupt losgeht mit dem Plattenhören, verblüfft die Kleine mit symmetrischen Anschlüssen. Und zwar nicht nur als störungsarme Verbindungsvariante zum nachfolgenden (Vor- oder Voll-)Verstärker, sondern eben auch für den Eingang, also die Verbindung vom Plattenspieler respektive Tonabnehmersystem. Praktischerweise bietet Pro-Ject passende, preisgünstige Phonokabel mit XLR-Steckern an, die ich ausführlich mit besagtem SuperPack-Spieler ausprobieren konnte – sehr empfehlenswert. Sobald die grundsätzliche Anschlussfrage geklärt ist, kümmert sich die Phono Box RS bereitwillig um alle Wünsche von Tonabnehmer und Schallplatte. Neben üblichen Prepre-Standards wie einstellbarem Verstärkungsfaktor (über kleine Kippschalter auf der Front) und zuschaltbarer Kapazität (via Mäuseklavier auf der Rückseite) kann man als MC-Betreiber bei der Österreicherin auch mal so richtig schön am Rad drehen. Der griffige, satt und „teuer“ laufende Drehregler auf der Front bietet – wenn der dazugehörige Kipp-schalter von F („fix“) auf V („variable“) umgeschaltet wurde – eine stufenlose Anpassung des (MC-)Abschlusswiderstands zwischen 10 und 1200 Ohm.
Lässt sich mit dem variablen Widerstand das klangliche Ergebnis von MC-Systemen schon prima ausbalancieren, so bietet die RS zusätzlich noch die Wahlmöglichkeit zwischen der weit verbreiteten RIAA-Entzerrkurve und der selteneren Decca- Variante an. Bei entsprechend geschnittenen Platten sollte der geneigte Vinylist diese Option unbedingt nutzen! Der Unterschied zwischen „richtig“ und „richtig richtig“ ist bisweilen verblüffend.
Verführerisches Werkzeug
Klanglich lässt die Phono Box RS nichts anbrennen. Sie verkörpert wahres Hi-Fi: Sie lässt nichts weg, dichtet aber auch nichts hinzu. Sie zeigt vollkommen eindeutig, was auf der jeweiligen Schallplatte drauf ist oder besser: was der jeweilige Tonabnehmer herauszuholen in der Lage ist. Denn auch die charakterlichen Eigenheiten von Laufwerken und Tonarmen reicht sie ambitioniert und wie selbstverständlich weiter und hält sich dabei mit klanglichen Kommentaren selbst zurück. Mit ihrem unverstellten, ungetrübten Blick aufs Ganze empfiehlt sie sich auch als hervorragendes Werkzeug, um das analoge Frontend (Tonabnehmer, Tonarm, Laufwerk, Stellfläche) perfekt aufeinander abzustimmen. Schließlich wird dort, ganz „vorn“ in der Kette, der Grundklang geformt. Und ein Ortofon Cadenza Black klingt nun mal andes als ein SPU, ein EnVogue Astra anders als ein Pro-Ject Xtension, ein Holzbrett anders als ein LignoLab-Tisch.
Die Phono Box RS von Pro-Ject bietet eine vollkommen allürenlose High-End-Performance. Wer Euphonie oder klanglichen Zuckerguss sucht, ist hier falsch. Wer sich hingegen voll in die Musik – oder die Feinabstimmung der analogen „Hardware“ – versenken möchte, wird sie lieben. Ein wirklich tolles Werkzeug (um nicht zu sagen: eine feine Allzweckwaffe) für schlaue Vinylisten. Kurzum: Empfehlung XXL.