Pierre Boulez (26.03.1925 – 05.01.2016)
„Sprengt die Opernhäuser in die Luft!“
Dieses lustvoll revolutionäre Zitat hat Pierre Boulez 1967 auf einen Schlag auch bei dem Publikum bekannt gemacht, das mit Neuer Musik und aktuellem Musiktheater weniger zu hatte. Gefallen ist dies in einem Interview mit dem Spiegel, bei dem Boulez mit äußerst gesundem Selbstbewusstsein seine Kritik am Opern- und Konzertbetrieb der Zeit formulierte. Dass diese Worte nicht die eines Maulhelden sind, hat Boulez dann neun Jahre später bei den Bayreuther Festspielen eindrucksvoll dokumentiert, indem er dort zusammen mit Patrice Chareau Wagners Ring auf so produktive Art und Weise sprengte, dass man diese Ring-Tetralogie bis heute als „Jahrhundert-Ring“ bezeichnet. Boulez, der eigentlich erst Mathematik und technische Wissenschaften studieren wollte, wurde 1943 Kompositionsschüler von Olivier Messiaen am Pariser Konservatorium. Ab 1951 beschäftigte er sich mit derMusique concrète und besuchte 1952 erstmals die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt. Dort wirkte er 1955–1967 als Dozent und als Dirigent des Darmstädter Kammerensembles. Hier erlangte er auch seinen Weltruhm als Komponist, der zusammen mit Stockhausen, Nono und Cage gewissermaßen als „Fab Four“ die Ära der E-Musik ab 1945 ganz wesentlich prägte. Er ist damit der letzte lebende Zeuge dieser so immens wichtigen musikalischen Epoche.
Sind seine Kompositionen doch immer eher einem Spezialpublikum vorbehalten gewesen, so feierte der Dirigent Boulez seit Mitte der 1960er Jahre auch Erfolge beim breiten bürgerlichen Musikpublikum. In Erinnerung daran erscheint in diesen Tagen – pünktlich zum 90. Geburtstag des Künstlers – bei Sony Classics eine umfangreiche Kompilation, die auf 67 CDs eindrucksvoll veranschaulicht, wie Boulez bei der damaligen Columbia erstmals die musikalische Moderne von der 2. Wiener Schule über die französischen Impressionisten bis hin zu den osteuropäischen Entwicklungen bei Stravinsky und Bartok und der amerikanischen Spezifik Varèses und Carters in voller Breite dem Tonträgermarkt zugänglich machte. Neben der unglaublichen Werkvielfalt, die auch scheinbare Nebenwerke der Epoche beinhaltet, fasziniert bis heute der transparente und nur der Komposition verpflichtete Orchesterklang, bei dem der Dirigent Boulez ganz hinter das Werk des jeweiligen Komponisten zurücktritt. Darunter sind auch Einspielungen, die bis heute ihren Referenzstatus behalten haben, so etwa Bergs Wozzeck mit Walter Berry in der Titelpartie.
Will man dagegen das komplette kompositorische Werk Boulez‘ kennenlernen, so sei auf die 2013 erschienene CD-Box der Deutschen Grammophon verwiesen, die überwiegend in Neueinspielungen und mit so integeren Künstlern wie der Sopranistin Christiane Schäfer oder dem Cellisten Jean-Guihen Queyras musikalisch zu überzeugen weiß. Gab es von den älteren bei Erato erschienenen Aufnahmen der Boulez’schen Kompositionen immer nur Teilkompilationen, so kann man sich hier erstmals einen kompletten Überblick verschaffen und die kompositorischen Entwicklungslinien problemlos nachvollziehen. Faszinierend ist es, dabei die Aufnahmen der beiden Boxen parallel zu hören, da so eindrucksvoll verständlich wird, wie die dirigierten Werke die eigenen Kompositionen beeinflusst haben und umgekehrt das eigene kompositorische Denken den interpretatorischen Ansatz des Dirigenten gelenkt hat.