Paul Kalkbrenner – Berlin Calling (The Soundtrack by Paul Kalkbrenner)
Kalkbrenner – Der Ruf Berlins
Spätestens wenn die Brothers-In-Arms-CD endgültig verschlissen ist, der Text von „Hotel California“ keine Rätsel mehr aufgibt, die Gänsehaut bei „Stimela“ einer neurotischen Beklemmung weicht und man die Cover der schweren Diana-Krall-Scheiben lieber nur betrachtet, statt die LPs aufzulegen, wird es Zeit für neue Test-Musik. Aber welche? FIDELITY weiß Rat.
Jedes Jahr um Ostern herum fahre ich mit einem Freund an die Küste. Die Familien bleiben zu Hause. Es geht um Basisbedürfnisse: Filmklassiker schauen, die Frauen nicht gucken wollen und kleine Kinder nicht gucken sollen (Terminator, Stirb langsam, Mad Max), zu unmöglichen Zeiten Mittag essen und überhaupt drei, vier Tage lang einen unkonventionellen Lebenswandel pflegen. Der Fachterminus für eine solche Freundeserfahrung lautet „Bromance“. Dieses Jahr war der Wunsch nach einer Auszeit in Männerzweisamkeit besonders ausgeprägt. Ein Jahr Corona in den Knochen, Arbeit im Homeoffice, flankiert von Verpflichtungen als Lehrer/Schuldirektor/Kantinenkoch/Motivationstrainer/Selbsthilfepaartherapeut … Jeder weiß, wovon ich rede. Jedenfalls gab es an der Küste viel Wind, keinen Stress – und eine neue Bromance-Erfahrung. Wir tanzten. Jeder für sich und doch zu zweit. Ein Jahr ohne Konzerte, ohne Party, ohne legeres Zusammenkommen: Wir warfen eine kleine Boombox an, verkoppelten sie mit unseren Handys und ließen eine 9,95-Euro-Diskokugel rotieren.
Nun, der Freund steuerte irgendwann Musik einer Stilistik bei, die mir sonst nicht unbedingt zusagt: Techno. Habe ich schon in den Neunzigern nicht gehört, daran hat sich bis heute nichts geändert. Beziehungsweise: jetzt mit einer Ausnahme. Ein seltsam schläfrig-störrisches Gitarrensample, begleitet von zarten Rumba-Rassel-Sounds, digitalem Händeklatschen, schließlich eine warmherzig-wabernde, mächtige Basslinie – so beginnt „Aaron“, der erste Song auf dem Album Berlin Calling von Paul Kalkbrenner. Er traf einen Nerv. Ich tanzte um den Küchenblock, die Diskokugel ließ die an Haken baumelnde Teetassenkollektion bunt aufleuchten – ich vergaß Zeit und Raum. Am Ende hatten wir das Album drei Mal hintereinander gehört. Später recherchierte ich mit schwachem Internet und erfuhr, dass Paul Kalkbrenner ursprünglich aus Ostberlin stammt, mit der Wende in die Pubertät durchstartete, die Schule schmiss und zu einer lokalen Berliner DJ-Persönlichkeit wurde, bis ihn die Hauptrolle im deutschen Spielfilm Berlin Calling und der von ihm komponierte Soundtrack ab 2008 zu einem Techno-Weltstar machten.
Film und vor allem Album sind grandios, anders lässt es sich nicht sagen, auch wenn man sonst gerne Bob Dylan, Sixties-Funk und J.J. Cale hört. Und vor allem auch losgelöst von jenen alltagsfremden Momenten an der Küste. Manch einer wird vielleicht den Song – oder sagt man eher „Track“? – „Sky And Sand“ kennen, der einst 129 Wochen in den deutschen Charts stand, bis heute war nur „Last Christmas“ von Wham! erfolgreicher. Es ist auch das einzige Stück auf dem Album mit Gesang; Paul Kalkbrenners Bruder Fritz, ebenfalls DJ, ist hier zu hören. Ansonsten sind auf Berlin Calling Samples, tausend Tonspuren und digitale Sounds zu einem für Techno-Verhältnisse melodiösen Instrumental-Gesamtkunstwerk arrangiert worden, so klar und sauber und elektrisierend, dass jede High-End-Anlage die aus Bits und Bytes zusammengebauten Songs zu faszinierenden Landschaften werden lässt. Bei „Azure“ zum Beispiel sah ich mich gestern, als das Album in menschenleerer Wohnung lief, wie ein Seeadler über zerklüftete Küstenlandschaften fliegen. Beim spartanischen Arrangement von „Square“ stapfte ich zu pulsierenden Bässen auf sphärischen Synthiespuren durch einen regennassen Wald – jeder wird hier seine eigenen inneren Bilderfantasien entwickeln. Kalkbrenner, der auf Konzerten keine vorproduzierten Songs abspielt, sondern mit Tonspuren jongliert wie ein akustischer Zirkusathlet, mixt für seine Studioalben tausend Samples – vom Piepton einer sich schließenden U-Bahn-Tür bis zu Drumsounds von alten Soulplatten – zu neuen Klangerlebnissen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, auch nicht gerade ein Organ der Elektronikszene, sprach vom „sentimentalsten Techno aller Zeiten“. Eine schöne, passende Beschreibung für ein großes Musikwerk.
Paul Kalkbrenner
Berlin Calling (The Soundtrack by Paul Kalkbrenner)
Label: BPitch Control (Rough Trade)
Format: CD, LP, DL 16/44