My Brain Hurts!
Mein Held des Jahres heißt Étienne Klein. Der Mann ist Quantenphysiker und Leiter von verschiedenen französischen Forschungseinrichtungen.
Ende Juli twitterte Klein ein Foto, das angeblich vom James-Webb-Weltraumteleskop aufgenommen wurde und Proxima Centauri zeigte, jenen Stern, der nur 4,2 Lichtjahre von der Erde entfernt am Himmel hängt. „Diese Detailgenauigkeit …“, schwärmte Étienne Klein, „Tag für Tag wird eine neue Welt enthüllt.“
Die weltweite Begeisterung über das scharfe Bild des rot leuchtenden Himmelskörpers aber erstickte alsbald im Schaum vorm Mund manch Wutwissenschaftlers. Man sah sich, oh, lá, lá, getäuscht! Denn tatsächlich war auf dem Foto nicht Proxima Centauri, sondern eine Scheibe Wurst zu sehen, eine paprikagewürzrote Chorizo. Monsieur Klein erklärte, er habe dafür sensibilisieren wollen, Aussagen von Autoritätspersonen in Frage zu stellen. Am Ende tat eine wissenschaftliche Richtigstellung not: „Gemäß der zeitgenössischen Kosmologie existieren keine spanischen Würste an Orten fern der Erde.“
Von dieser Geschichte hörte ich auf einer langen Autofahrt von Österreich in den Norden. Die Passagiere auf der Rücksitzbank, zwei Töchter im Teenageralter, wollten Radio hören. Erst Ö3, dann Bayern 3, später NDR 2. Wir vorne stimmten zu, um nach drei Wochen Wandern keine weiteren Pubertätsgewitter heraufzubeschwören. Für mein Befinden nach zwölf Stunden Formatradio muss ich Monty Python zitieren: My brain hurts! Ich bin tatsächlich mild geschockt, mit welcher Musik meine Kinder aufwachsen. Wie austauschbar „die besten Hits von heute“ sind. Nur wahllos herausgegriffen aus dem Soundbrei: Laurell mit „Habit“, Ava Max’ „So Am I“, Ed Sheerans „Beautiful People“ und der ewigselbe Robin Schulz. Natürlich bin auch ich als Kind der Achtziger mit austauschbaren Songs aufgewachsen. Doch da war immer auch ein David Bowie, ein Stevie Wonder oder ein Elton John in den Charts. Echte Stars, die schon damals auf jahrzehntelange Relevanz zurückschauen konnten und vermutlich künstlerische Unsterblichkeit erwarten dürfen. Die Stars von heute? Würstchen im großen Kosmos der Musikgeschichte.
Elton John allerdings ist auch heute noch in den Charts. Mit seinem in bald 60 Karrierejahren langweiligsten Song, einem Duett mit dem ehemaligen Fotomodell Dua Lipa. Dennoch ist Elton John eine der letzten aktiven Popmusiklegenden. Da gibt’s noch Paul McCartney, Bob Dylan, einen Teil der Stones, Debbie Harry, Sting und, okay, Madonna … Viel mehr fällt mir nicht ein. In 20 Jahren gibt es keine lebenden Pop-Legenden mehr. Daher haben wir unseren Töchtern, die nach dem Film Rocket Man ein Faible für Elton John entwickelten, Karten für dessen „Farewell“-Tour geschenkt. Vier Tickets à 179,50 Euro: 718 Euro. Zweitgünstigste Kategorie! Eine Investition, aber in die Zukunft, können unsere Kinder doch später sagen: Elton John? Den hab ich noch live gesehen.
PS: Unnützes Wissen, Teil 26: Die bescheidene kulturelle Bedeutung der Format-Musik von Robin Schulz & Co heute zeigen drei aktuelle Musik-News: 1.) Die Stars auf dem Soundtrack des neuen Marvel-Blockbusters Thor: Love and Thunder? Guns’N Roses, Enya und ABBA. 2.) Im Sommer verdrängte ein 30 Jahre alter Song Harry Styles von der Spitze der britischen Charts – „Running Up That Hill“ von Kate Bush (der Dank geht an die Netflix-Serie Stranger Things). 3.) Auf den Plätzen eins bis drei der Halbjahrescharts 2022 der beliebtesten Alben in Deutschland: Rammstein, Die Toten Hosen, Red Hot Chili Peppers.