Offen französisch
Andere Länder, andere Sitten – anderes Hören. Das galt einmal. Heute sind wir globalisiert, und nationale Klangvorlieben werden im Interesse einer weltweiten Vermarktbarkeit grenzübergreifend linearisiert. Zum Glück gibt es Ausnahmen.
Lautsprecherbau à la française? Mag ich. Die Franzosen machen ihr Ding. Während alle Welt sich auf einen gemeinsamen Klang-Nenner geeinigt zu haben scheint und die Entwicklungsarbeit pragmatisch Kultur- und Kontinentgrenzen überwindet, kommen aus dem Hexagon immer wieder Lautsprecher-Eigengewächse mit diesem besonderen, wie sagt man: Je-ne-sais-quoi – Charme, Esprit, ja: Charakter.
So ein gerüttelt Maß Klangcharakter kann einen aber ganz schön aus den Socken hauen. Ist mir jedenfalls passiert, als ich im vergangenen Frühjahr dem Hersteller Mulidine erstmals begegnet bin. Das Paar Standboxen namens Allegretto V4 spielte in den Räumen ihres hiesigen Vertriebs Bauer Audio an einem zufällig ebenfalls französischen Vollverstärker von Lavardin. Und es klang … viel zu groß, viel zu packend und definitiv viel zu transparent für derlei hüfthohe Schmalbrüster von augenscheinlich doch ganz gewöhnlich daherkommenden Standböxchen. Ganz klar, da war was im Busch. Ich musste herausfinden, was.
Unbekannt traditionsreich
Mulidine mag hierzulande ein unbeschriebenes Blatt sein, tatsächlich aber existiert das Unternehmen seit sage und schreibe 32 Jahren. 1981 hob der Musiker und Fachschullehrer Marcel Rochet die Lautsprechermarke aus der Taufe. Von Anfang an drehte sich alles ausschließlich um dynamische Mehrwege-Lautsprecher von konventioneller Optik, aber mit cleverem Innenleben. Monsieur Rochet hatte sich da nämlich etwas ausgedacht: ein akustisch komplex wirksames Element im Inneren seiner Boxen, platziert unmittelbar hinter dem Tieftonchassis. Damit wollte er eine Anpassung des notorisch langsam reagierenden Konustreibers an den prinzipbedingt viel schnelleren Hochtöner erreichen.
Ich höre die Fragen: Moment mal! Ein dynamisches Chassis beschleunigen? Mit einem akustischen Filter? Ist das ein Witz?
Kein Witz. Rochet fasste schließlich nicht den elektromechanischen Treiber als solchen ins Auge, dem sich natürlich kein Nachbrenner implantieren lässt. Sein Augenmerk galt vielmehr dem rückwärts ins Gehäuse abgestrahlten Schall. Denn der stellt eine nicht zu unterschätzende Quelle unerwünschter Energie dar, die wiederum durch Reflexion im Gehäuse auf den Treiber zurückgeworfen wird und dort für allerhand Unbill sorgt. So leidet die Impulswiedergabe ebenso wie das dynamische Ansprechverhalten, wenn, bildlich gesprochen, permanent von hinten ein Drücken und Zerren stattfindet, noch dazu entgegen der gerade aktuellen Signalphase. Den Hochtöner kümmert das wenig. Er ist in einem Frequenzbereich aktiv, der sich mit wenig Aufwand bedämpfen lässt. Aber wo, fragte sich Marcel Rochet, bleibt dann das harmonische Miteinander? Und so machte er sich daran, dem Tiefton das Leben zu erleichtern.
Know-how, in Gips gegossen
Rochets Filterelement sieht aus wie eine Gipsplatte mit Löchern. Ist es auch. Doch in dem Element steckt viel Wissen und Erfahrung. Abstand und Einwinkelung zum Tieftöner wurden natürlich nicht zufällig gewählt. Die Platte steht etwas schräg, genau gesagt mit einer Anwinkelung von 30 Grad, ein Stück weit hinter dem Tiefmitteltöner. So trifft der rückwärtig abgestrahlte Schall „weicher“ auf die Absorberplatte, gleichzeitig werden die wenigen doch noch von den Plattenstegen reflektierten Schallanteile nicht direkt auf die Membran zurückgeworfen.
Die feine Perforierung besteht nicht aus zylindrischen, sondern aus konisch zulaufenden Löchern, was die Absorptionseigenschaften weiter erhöht. Wie sich so etwas bauen lässt? Natürlich ohne zu bohren, das wäre ja bei den tausenden Löchern eine irre Sauerei. Vielmehr wird bei der Herstellung flüssige Gipsmasse auf eine igelförmige Kautschukform gegossen. Nach dem Aushärten und Trennen von Gips und Form ergeben sich perfekt saubere Löcher.
Marcel Rochet hat seit 1981 alle seine Lautsprecher mit einer solchen Platte ausgestattet. Tatsächlich zeigen Querschnitte durch verschiedene Modelle früherer Generationen, dass hier mit Konsequenz und Akribie einer Konstruktionsphilosophie die Treue gehalten wird und das Motto ganz klar „Evolution statt Revolution“ heißt. Und das trotz eines nicht unwichtigen Personalwechsels: Seit 2005 hat Mulidine mit Marc Fontaine einen neuen Chef. Der achtet nicht nur auf die Fortführung der konstruktiven Tradition, sondern ist auch stolz darauf, dass immer noch „Fabriqué en France“ gilt – alle Arbeitsschritte erfolgen nach wie vor im Inland, in der Umgebung von Paris.
Nur die Lautsprechertreiber sind Ausländer. Die für den Hochton zuständige Textilkalotte ist eine Skandinavierin und kommt von Seas aus Norwegen. Der Tieftonkonus dagegen ist ein Südländer: Ciare aus Italien fertigt das Chassis mit der leichten und steifen Papiermembran. Beide bringen von Hause aus einen relativ hohen Wirkungsgrad (91 dB der Tweeter, 92 dB der Woofer) mit – sehr erfreulich. Detail am Rande: Beide Chassis lassen sich über die Website von Mulidine auch einzeln kaufen. Der Hochtöner käme so auf 65 Euro, der Tieftöner ist mit 130 Euro ausgepreist. Nur einen Frequenzweichenbausatz sucht man vergebens – das wäre dann wohl doch zu viel der Transparenz.
Schick, pragmatisch – prêt-à-écouter
Am äußeren Erscheinungsbild der Allegretto gibt es nichts auszusetzen: eine Box im Sinne des Wortes. Die Verarbeitung ist gut; dass die Bodenplatte aus Holz mit den winzigen, kaum zugänglichen Spikes nicht der Weisheit letzter Schluss ist, gibt allerdings selbst der Vertrieb zu. Eine „A“-Version (für „Allemagne“) mit Metallbasis und durchgeschraubten, von oben zugänglichen Spikes wäre wirklich eine gute Idee.
Jetzt kommt ein Witz. Frage: Welches ist die audiophilste Verkabelungsmethode für die mit einem Bi-Wiring- Terminal ausgestattete Allegretto V4? Antwort: Single-Wiring am unteren Buchsenpaar. Warum? Weil das obere Paar intern gar nicht angeschlossen ist. Was zum …? Französischer Humor!
Ich mag nicht nur Lautsprecherbau à la française. Ich mag auch das Gardemaß der Mulidine. Standboxen der Klasse „schlank und hüfthoch“ sind das audiophile Äquivalent eines Schweizer Taschenmessers: Für extreme Beschallungsaufgaben gibt’s Besseres, zur schnellen und effektiven Problemlösung im hifidelen Alltag dagegen kaum ein geeigneteres und praktischeres Werkzeug. Der Riesenvorteil gegenüber Kompaktboxen: kein Ständer, dafür bei gleicher Grundfläche das drei- bis vierfache Volumen, was einen erwachsenen Tiefton ermöglicht, ohne kleine Räume infrasonisch zu überfordern. Die Größenbeschränkung fokussiert die Kreativität des Herstellers zumeist auf zwei Übertragungswege und eine simple Weichentopologie, wovon wiederum die Qualität profitiert, denn der solcherart gegängelte Entwickler sieht sich nun erst recht herausgefordert, seiner Umwelt mal zu zeigen, wo der Hammer hängt, mit anderen Worten: welche Klanggipfel mit vermeintlich profanen Mitteln, quasi allen Widrigkeiten zum Trotz, greifbar werden. Kurz: Kleine Zweiwege-Standboxen können verdammt gut sein.
Vielfältige Verstärkeroptionen
Genau das erwarte ich auch von der Probandin. Ich habe die Mulidine Allegretto V4 schließlich schon im Vorfeld des Tests gehört – siehe oben. Was ja auch der Grund ist, dass sie nun in meinem Hörraum steht. Während sie beim deutschen Vertrieb Bauer Audio an einem Lavardin-Vollverstärker spielte, wird sie bei mir an meiner Naim-Kombi sowie an einem koreanischen Röhrenvollverstärker sehr geringer Leistung (8 Watt) betrieben werden. Nach allem, was ich bisher von ihr weiß, sollte die Französin mit beiden Antriebsweisen bestens harmonieren.
Erstes Stichwort: la francophonie. Französische Lautsprecher – soweit ich sie gehört habe – bringen ein feines Prickeln ins Spiel. Ich habe ihren Oberton immer als etwas Besonderes erlebt. In früheren Zeiten einen Tick heller als die Konkurrenz aus anderer Herren Länder, dabei aber weder hart noch überanalytisch, eher: lebenslustig. Heutzutage auch mal erstaunlich samtig und fein – aber eben wieder auffällig ansprechend von oben heraus. Den Global Player Focal, dessen Feldspulen-Basstechnologie derzeit Furore macht, lassen wir mal als Sonderfall außen vor.
Die Mulidine Allegretto V4, wie ich sie im Vertriebshörraum erlebt hatte, klang irrwitzig offen, schnell und präsent. Willi Bauer kultiviert einen für Audiophile sehr eigenen Musikgeschmack: Er hört gerne Klassik. Auch zeitgenössische. Als er das Alban-Berg- Quartett Streichquartette des 20. Jahrhunderts (kennen Sie Roman Haubenstock-Ramati?) spielen ließ, bildeten die Mulidines einen hell ausgeleuchteten, von kristallklarer Luft durchströmten Aufnahmeraum ab. Das Instrumentarium der Herren Pichler, Maetzl, Beyerle und Erben stand hautnah vor dem Hörer, das Kolophonium staubte, die Saiten knallten – ein Erlebnis. Aber auch: Zeichen der perfekten Harmonie aller Komponenten der Wiedergabekette. Und, nicht zu vergessen, des Hörraumes.
Zu Hause interessierten mich zwei Dinge ganz besonders: wie sich die nominell eineinhalb Dezibel mehr Wirkungsgrad (verglichen mit meinen Ayons) auswirken würden; und ob nun, in vertrauter Umgebung, der erwartete französische Klangcharakter mit meiner Hörgewohnheit kollidieren würde.
Hell, präsent, anti-seidig
Sie klingen schon anders. Doch das ist nach zehn Minuten vergessen. Die Allegretto V4 ist einen Tick heller abgestimmt als meine Ayon Seagull/c. Statt „heller“ kann man aber genauso gut „präsenter“ sagen, hat damit eine musikalische Qualität ins Spiel gebracht, und alles ist in Butter. Klassik-Aufnahmen profitieren enorm davon, besonders solche, bei denen den Streichern besonders viel Seidigkeit anproduziert wurde. Weg damit, hier werden Metallsaiten mit kolophoniertem Pferdehaar gestrichen – wir sind doch nicht bei James Last!
Bevor das hier alles zu hochtonlastig rüberkommt, wenden wir uns dem Bass zu. Dort wird schließlich der meiste konstruktive Aufwand betrieben. Und das Ergebnis gibt dem recht, quantitativ wie qualitativ. Der Tiefton der Allegretto V4 ist nicht „erstaunlich angesichts des kleinen Formats“ – er ist nämlich überhaupt nicht auffällig, sondern einfach da, wenn es die Aufnahme erfordert. In meinem ein klein wenig bassschluckenden Hörraum funktioniert das ausgezeichnet, jegliche Art von Musik macht einfach Spaß. Der Bass kommt schnell und blitzsauber, Registerübergänge sind nicht wahrnehmbar – eine ganz ausgezeichnete Abstimmung.
Dynamisch gehen die Mulidines sehr gut ab. Sie mögen Schlagzeug, besonders die Snaredrum. Peng! Ob da neben den leichten Chassis auch das nicht überdämpfte Gehäuse mitspielt? Die Absorberplatte ermöglicht einen Verzicht auf Schaumstofforgien, die plump Energie fressen. Eine Parallele zu meinen ebenfalls strömungstechnisch clever konzipierten und somit sehr sparsam bedämpften Ayons, die auch lebendiger, ansatzloser loslegen als viele Mitbewerber.
Bitte mit Sorgfalt behandeln
Raumdarstellung und Plastizität sind tipptopp, gleichwohl haben sich die Französinnen in den zwei Räumen, in denen ich sie hörte, unterschiedlich verhalten. Bei mir, wo sie enger beieinander standen und ich aus kürzerer Entfernung hörte, war der Blick auf die Bühne eher aus Rang-Perspektive, im sicher doppelt so großen Vertriebsraum spannten die Boxen ein opulentes Panorama auf, das auch über die Lautsprecherhöhe hinaus kaum Beschränkungen zu kennen schien. Fazit: Völlig sorglos mitten im Irgendwo sollte man sie nicht platzieren, dafür ist ihr Potenzial einfach zu groß.
Die Paarung mit der Röhre war übrigens etwas ganz Feines. Ein sehr, sehr schöner Ton kam da raus, die 300B-Triode konnte sich voll entfalten. Immer wieder faszinierend, was mit nur acht Watt möglich ist. Für neugierige Hörer, die sich in Richtung Kleinleistungsverstärker alle Optionen offen halten möchten, könnte das der ideale universelle Schallwandler sein. Was bleibt hängen nach den französischen Wochen? Es ist dann doch der Hochton, der mir in Erinnerung bleibt – federnd und fein. Im Zusammenspiel mit dem leichtfüßigen, flinken Bass würde ich die Mulidines als Tänzer, Swinger bezeichnen. Mit einer besonderen Schwäche für Klassik. Nicht umsonst heißen sie: Allegretto.
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