Muddy Waters – Folk Singer
West-Berlin, 1989. Ich war nach dem Abitur zum Studium in die Enklave hinter die Mauer gezogen, die nur vier Wochen später fallen sollte.
Ich lebte in einer Kreuzberger Altbauwohnung und versuchte, mit Braunkohlebriketts ein wenig Wärme in den Winter an der Spree zu bringen. Die Wohnung war möbliert und, wegen des Ofens, sehr staubig. Zur Ausstattung zählte ein alter Plattenspieler; monatelang versuchte ich mit antistatischen Tüchlein, Rußrückstände von relevanten Bauteilen abzutragen. Vinyl hatte ich nicht viel, musste also zunächst mit den Ton-Steine-Scherben-Platten des Hauptmieters vorliebnehmen.
Bis ich Cai kennenlernte. Cäpt’n Cai. Später sollte er Chefredakteur dieses Magazins werden und noch später viel zu früh sterben. Da ich diese Zeilen schreibe, spüre ich ein Ziehen im Herzen. Als zwei Ex-Pats aus dem Norddeutschen manövrierten wir uns gemeinsam durch den neuen Ernst des Lebens. Den Soundtrack dafür lieferte Muddy Waters, dessen Platte Folk Singer ich zu meinem 20. Geburtstag vom Cäpt’n geschenkt bekam. Ich sehe ihn jetzt vor mir, wie er auf seiner mit Sicherheit akustisch ideal ausbalancierten Wolke sitzt, eine perfekt gestimmte Harfe im Schoß, und wohlwollend herabschaut, da ich die wohl beste Platte der Welt empfehle.
Folk Singer: Muddy Waters’ zweites Studioalbum (1963). Das einzige Werk des Meisters des elektrifizierten Chicago-Blues, das er akustisch aufnahm – keine künstlerische, sondern eine Marketing-Entscheidung des Labels Chess Records. Das schwarze Publikum hatte den Soul für sich entdeckt, Blues galt als out of style. Nicht aber für das weiße Publikum: Junge Bands wie die Rolling Stones interpretierten den 12-Takt-Stil neu. Als authentisch galt, was akustisch klang. Und so versammelte Muddy Waters im Studio Waters Willie Dixon am Kontrabass, Clifton James am Schlagzeug und Buddy Guy an der zweiten Gitarre. Zu Aufnahmen, die so intim klingen wie bei einer privaten Wohnzimmer-Session eingespielt, allerdings in einem Wohnzimmer mit den akustischen Ausmaßen einer Kathedrale.
In der Stille des Raumes wehen sparsamst platzierte Akkorde und leidenschaftlicher Call-and-Response-Gesang wie eine heiße Brise am Ufer des Mississippi. Wie sich hier das Gebrumme und Gesumme und der Rhythmus vom taktgebenden Fuß der Blueslegende in die aufs Nötigste reduzierten Arrangements mischen, das ist große Produzentenkunst. Neun Stücke zählt das Original, in neueren Remaster-Ausgaben finden sich fünf weitere Aufnahmen, die Waters in wechselnder Besetzung, u. a. auch mit dem Pianisten Otis Spann, 1965 eingespielt hatte. Vor allem aber die Songs von 1963 gehören zu den am besten konservierten Bluesaufnahmen der Geschichte. Allein das eröffnende „My Home Is In The Delta“ offenbart die Tiefe und Transzendenz von Waters’ Stimme im Zusammenspiel mit der eigenen Rhythmusgitarre und der in hohen Tonsphären singenden und klagenden Gitarre des damals noch recht unbekannten Buddy Guy. Oder wie bei „Long Distance“ der mal so zärtliche, mal emotional aufbegehrende Gesang mittig zwischen den Boxen zu schweben scheint, umtanzt von Dixons Kontrabass, von sanft swingenden Drums und flankiert von beiden Akustikgitarren – das ist auch 60 Jahre später noch eine audiophile Offenbarung. Langsam schleppend ist das bevorzugte Tempo dieser Bluesstücke, mit Ausnahme des schnell groovenden „Good Morning Little Schoolgirl“ von Sonny Boy Williamson, mit dem später auch Van Morrison Erfolge feiern sollte.
Ach, die Erinnerungen … Ich sehe mich auf dem von Kaminruß verfärbten Sofa den vor Energie vibrierenden Songs lauschen. Auf einem Plattenspieler, der dank Muddy Waters einen letzten Frühling erleben durfte. Ich zog wenig später in ein Studentenwohnheim. Und laut meinem Vermieter wanderte der Plattenspieler samt Ton-Steine-Scherben-Gesamtwerk kurz darauf in die Tonne.
Muddy Waters – Folk Singer
Label: Chess/Universal/Geffen
Format: Vinyl, CD, DL 24/192
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