Mixtape: Ein Ego-Trip von Nord nach Süd. Oder: Wie ich den Schlaf erfolgreich besiegte
Friedrich Nietzsche, der alte Kauz, sagte einmal, das Kunststück der Lebensweisheit sei es, den Schlaf jeder Art zur rechten Zeit einschieben zu wissen. Nun beherrsche ich dieses Kunststück nicht und auch weise bin ich kaum, denn wenn ich müde bin, dann übermannt mich der Schlaf, ganz gleich, wo und wann. Auch hinter dem Steuer. Doch für jedes Gift gibt es ein Gegenmittel, und auch gegen den Schlaf gibt es ein hervorragendes Antidot: die Musik. Hören wir uns also an, was sie der Müdigkeit entgegenzusetzen hat, die Musik!
21 Uhr. Ein Auto. Ein CD-Player. Und ich. Vor uns liegt die Strecke München–Venedig, um uns legt sich die Nacht nach einem langen Tag wie eine dicke Decke auf das Gemüt und die Lider. Und so gilt es nun, nicht nur das schläfrige Gemüt, sondern auch die Lider zu überlisten. Und ich habe eine Strategie und bin ausgerüstet mit Big Fat Night, meinem persönlichen TripMix gegen den Schlummer. Soll sie da draußen nur vor sich hin dunkeln, die liebe Nacht. Wenn ich gleich auf „Play“ drücke, wird sie vergessen, wer sie ist, und sich verwandeln in einen kleinen, gemeinen Club, in dem es wummert und nicht schlummert. Ohne Rücksicht auf Verluste. Wenn man heute aus dem Fenster sieht, mag man meinen Mix in der herbstlich/winterlichen Kulisse für denkbar merkwürdig und unwürdig halten, doch lassen wir die Jahreszeit einmal beiseite und stellen uns diesen Club vor, der sich irgendwo auf dieser Welt in einem Keller versteckt. Und stellen wir uns vor, wir sind allein und ohne Zufluchtsort für die Nacht, wir sitzen in der Ecke auf einem alten Sessel, der sicherlich muffelt und prominente Federn besitzt, die jeglichem Sitzkomfort äußerst erfolgreich entgegenwirken. Und wir fühlen uns einsam und fehl am Platz, denn am liebsten wären wir in unserem Bett. Doch es bleibt uns nichts anders übrig, und so sperren wir die Äuglein auf und sehen den Nachtfalken zu, wie sie feiern, und wir geben den Tönen, die die Boxen in die Menge spucken, eine Chance und nehmen sie als das, was sie sind. Dick. Fett. Laut. Massiv. Und der Untergang der Müdigkeit. Los geht’s, andiamo – prestissimo, vivacissimo und überhaupt!
Dillon: „Abrupt Clarity“ (This Silence Kills)
Der erste Song eines Tapes gibt den Ton an. Er trägt aber auch einige Verantwortung, denn er muss einen sanften Einstieg liefern in die Atmosphäre, die man schaffen möchte. Bei Big Fat Night kein Kinderspiel. Doch „Abrupt Clarity“ hat es drauf. Lieblich säuselnd und klimpernd nähert er sich an, um einen dann ganz behutsam an die Hand zu nehmen und zu entführen in das Reich der Beats und Elektronik.
Kasabian: „Ovary Stripe“ (Kasabian)
Kasabian. Kasabian! Ja, ich gebe es zu. Ich bin ein Fan. Nicht nur, weil ich einst erfahren durfte, wie es sich anfühlt, mit den Herren aus Leicester backstage zu feiern und einen ausgewachsenen Kater nach Haus zu tragen, sondern weil sie einfach alle Golbov’schen Musikknöpfe drücken – mit virtuosen Fingern. Man muss sich meiner Meinung sicherlich nicht anschließen, aber Kasabian rockt. Jedes Album ein kohärentes, in sich geschlossenes Themenwerk, jedes Album ein Soundtrack zu einem nicht existierenden Film. „Ovary Stripe“ ist ein eher unbekanntes Stückchen, das gänzlich gesanglos auskommt und nicht fehlen darf, wenn es darum geht, die Nacht ganz langsam und allmählich zum Tag zu machen.
Holy Fuck: „Tone Bank Jungle“ (Holy Fuck)
Wer meinen letzten Bericht über mein Muntermacher-Morgentape gelesen hat, der weiß, dass mein Ego ohne Holy Fuck nicht auskommt. Und da sich auch dieses Tape an mich richtet, befindet sich an dieser Stelle einer der großartigsten Tracks dieser Band. Leider habe ich den Auftritt der Jungs in New York am 1. November verpasst, und meine Freunde im Big Apple konnten aufgrund des Hurricanes nicht teilnehmen. Ich zitiere eine Freundin: „Ich musste jeden Morgen 25 Blocks abwandern, um im Fitnessstudio zu duschen. Kein Wasser, kein Strom zu Hause und im Büro. Am Donnerstag (1. November) ging ich aus dem verlagerten Büro nach Hause. Es war rabenschwarz, auf den Straßen die Army, um Plünderungen in Schach zu halten, und NYC fühlte sich zweifellos nicht sicher genug an, um auf ein Konzert zu gehen.“
Dark Sky: „The Lick“ (Radius, EP)
Ich bin erst kürzlich über diesen Song gestolpert. Gänzlich unbefangen stellte ich mein iTunes auf „Shuffle All“, als ich plötzlich hellhörig wurde und meinen Herzschlag auf Turbo umschalten fühlte. In Folge lief der Track erstmal in Dauerschleife, und auch auf meinem Roadtrip gen italienische Neuheimat drückte ich zwei Mal auf „Rewind“, als Dark Sky, eine Londoner DJ- und Produzenten-Formation, mit „The Lick“ an der Reihe war. Wie ein Flummi hüpfen Beat und halbtonlastige Melodie hier wie in einem gläsernen Käfig umher und schaffen es bis zum Ende nicht, auszubrechen. Wunderbar. Auf der Straße und in meinem erträumten Club, in dem sich die Tanzfläche langsam füllt.
Solomun & Stimming: „Feuervogel“ (Feuer & Eis, EP)
Auch wenn Solomun & Stimming sich hier im Titel der EP als konträre Elemente verkaufen, halte ich sie für ein überaus komplementäres Traumpaar aus der Hansestadt Hamburg. Auch als Solisten sind diese beiden Jockeys nähere Expeditionen in ihre Klangwelten wert. „Feuervogel“ knüpft meines Erachtens hervorragend an den Dark-Sky-Vorgänger an und baut eine schöne Brücke in etwas härtere Gefilde, die wir jetzt betreten, um der fortschreitenden Müdigkeit den Wind aus den Segeln zu nehmen.
SIRIUSMO: „Das Geheimnis“ (Modeselektion Vol. 01 by Modeselektor)
Weg von der Elbe, ab an die Spree. An dieser Stelle geht nur der hier. Eine logische Konsequenz von der ersten Modeselektion-Compilation aus dem Hause Modeselektor.
Moderat: „Beats Way Sick (feat. Busdriver)“ (Moderat)
Willkommen auf der anderen Seite. PÄNG! Ich verstehe nicht, was der Busdriver namens Regan Farquhar aus L.A., den die Gentlemen von Moderat hier featuren, von sich gibt, aber wenn es darum geht, meine innere Uhr von fünf vor zwölf auf halb acht zu stellen und alle sanften inneren Töne auszublenden, dann ziehe ich diesen Track heraus. Kick-Ass-Modus. Aus der Bahn!
Control Machete: „Si Señor“ (Amores Perros – Soundtrack)
Mexico City. Ein hartes Pflaster, wenn man dem Film Glauben schenkt. Meine Ex-Mitbewohnerin aus London schwingt sich dort mittlerweile die Karriereleiter hinauf und schickt mir immer wieder ganz bunte musikalische Care-Pakete. Dieser Track knüpft nahtlos an den Vorläufer an – nur eben auf Spanisch und gleichermaßen unverständlich. Macht aber nichts oder ist vielleicht besser so. Man weiß es nicht.
Moderat: „Sick With It (feat. Dellé a.k.a. Eased from Seeed)“ (Moderat)
Wer schon mal von München nach Italien gefahren ist, der weiß, dass Speed-Limits hier die Regel sind. Also heißt es wieder runter vom Gas. Das geht in diesem Fall nur rückwärts, über einen weiteren Zwischenstopp bei Moderat. Dieses Mal mit Frank A. Dellé, einem Hauptstädter.
Dunkelbunt, RAF MC & Fanfare Ciocarlia: „The Chocolate Butterfly (Tüwi Edit)“ (Raindrops and Elephants)
Dunkelbunt, also Ulf Lindemann, ist ein komischer, irgendwie esoterisch anmutender Vogel, der gerne alle Genres des Globus in eine Schachtel wirft und weltmusikalisch verwurstelt. Für mich zweifellos typisch Wien, auch wenn Herr Lindemann Hanseat ist. Wer sich den Rest des Albums anhört, weiß, was ich meine. Folklore, Swing, Balkan und so. „Chocolate Butterfly“ bin ich verfallen. Großartig. Bitte genau hinhören – und wer mir sagen kann, welche Sprache das ist, wendet sich an die Redaktion und klärt mich auf.
PVT: „Light Up Bright Fires“ (Church With No Magic)
PVT (London/Sidney) hießen eigentlich mal Pivot, aber mussten ihre Vokale im Zuge eines Rechtsstreits mit einer amerikanischen Band opfern. Wer den Track nicht mag, kann in unserem Fantasie-Club zum DJ-Pult gehen und sich „Brats“ von den Liars (Album WIXIW) wünschen, denn dieser Song wäre beinahe an dieser Stelle gelandet. Es bleibt der Vorstellungskraft überlassen, ob der DJ einer von der Sorte ist, der Wünsche annimmt oder abschmettert. In meinem Club brauche ich mir nichts zu wünschen, denn meine Fantasie steht hinter den Plattentellern.
Muse: „Map Of The Problematique“ (Black Holes And Revelations)
Ich versiegele mein Tape mit einem Klassiker von Muse: „Map Of The Problematique“. Das wäre spätestens der Song, der mich auf die Tanzfläche ziehen würde, um mich dort in die Arme der Musik zu werfen und zu vergessen, wo ich bin. Und „Life will flash before my eyes, so scattered and lost“ …
Die Lichter gehen jetzt aber an in unserem Club – wir dürfen aufwachen aus unserem Traum. Und wir dürfen wieder aus dem Fenster blicken, wo der Winter sich langsam breitmacht, und jahreszeitenkompatible Töne anschlagen. Vielleicht greifen wir in unsere Klassik-Kiste und hören uns Beethovens Violinkonzert an, um herunterzukommen, vielleicht greifen wir aber auch unsere Schuhe und machen uns auf in die Nacht, um in einem reellen Club dort mit den Zehen weiterzuwippen, wo wir aufgehört haben. Ich persönlich sehe Weinfelder und den Herbst vor meinem Bürofenster, und ich werde mir jetzt meinen iPod schnappen sowie Paul Auster, den Hund, und es auf einem Spaziergang dem Shuffle-Modus überlassen, ob heute Abend Tanzschuhe oder Hausschuhe angesagt sind. Meister Nietzsche kann sagen, was er will, auch mag ich vielleicht nicht weise sein, aber wie man sich mit Musik wach hält, das weiß ich. In einem gebe ich dem Kauz aber recht, und dem habe ich auch nichts weiter hinzuzufügen: „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.“