Mike Oldfield – Tubular Bells, Part One
Zum Progrock gehören Tempowechsel, Klassik- und Jazzanklänge, umfangreiche Instrumentalteile und überraschende Instrumente. Weil das alles zusammen kaum in einen Drei-Minuten-Song passt, gibt es den Longtrack.
Dieses Debütalbum eines 19-Jährigen war eines der gewaltigsten Erdbeben in der Pop- und Rockwelt. Der legendäre John Peel nannte es einen „historischen Durchbruch“. Aus dem Stand erklomm die Instrumental-Platte eines Unbekannten auf einem unbekannten Label Platz sieben in den britischen Charts. Und als der Anfang von „Part One“ zur Erkennungsmusik des Horror-Schockers Der Exorzist wurde, gab es kein Halten mehr. Tubular Bells stand auf Platz eins im UK und in den USA, auch in Kanada und Australien. An die 20 Millionen Alben wurden im Lauf der Jahre verkauft. Mike Oldfield hat den experimentellen Canterbury-Rock mit einem monströsen kommerziellen Erfolg gekrönt.
Der Junge war einfach ein introvertierter Gitarrenfreak. Seit Jahren trug er eine Reihe von eigenen Melodien mit sich herum, aber die bekannten Labels waren an seinen Demoaufnahmen ohne Gesang nicht interessiert. Schließlich fand er immerhin zwei Produzenten, die den Rückhalt ihres Studiochefs hatten, eines gewissen Richard Branson. Also nahm Oldfield im November 1972 im ländlichen Manor Studio seine Ideen auf, hängte sie aber an einem Stück hintereinander und spielte praktisch alle Instrumente selbst – mit unzähligen Overdubs. Dieses 25-minütige „Opus One“ wurde die A-Seite.
Die lange Form war von der Band Centipede inspiriert, einer legendären Canterbury-Freejazz-Formation. Die trancehaften, minimalistischen Passagen verraten dagegen den Einfluss von Terry Riley, und manche Melodie erinnert an Romantiker wie Sibelius, die der junge Oldfield gerne hörte. Doch die fertige A-Seite interessierte am Ende die Plattenbosse ebenso wenig wie zuvor schon die Demos. Also beschloss der Studiochef Branson, für diese Platte ein eigenes Label zu gründen. Tubular Bells wurde die erste Veröffentlichung auf Virgin Records und der Startschuss für Bransons weltweites Konsortium.
Am berühmtesten ist der Anfang, nicht nur wegen des Horrorfilms: eine ständig wiederholte Figur in 15/8, gespielt auf Steinway-Flügel, Farfisa-Orgel und Glockenspiel. Dann kommen eine Bassgitarren-Figur dazu, Akkordschläge, Klaviermotive, akustische Gitarre, immer mehr Instrumente und Melodien, auch elektrische Rockgitarren (3:38) – das geht so über fünf Minuten lang. Mit einer Glockenspiel-Figur (5:18) meldet sich der Mittelteil an, in dem die Themen, Stimmungen, Rhythmen und Sounds in schneller Folge wechseln – ein Höhepunkt der progressiven Rockmusik. Da gibt es zum Beispiel rockende Fuzz-Gitarren (6:20), ein schönes akustisches Gitarrensolo (9:40), im Hintergrund wieder die Klavierfigur vom Anfang, dann auch zirpend schöne E-Gitarren (11:30), ein kreischend lautes Rockgitarren-Thema (13:30), die Honky-Tonk-Piano-Passage mit dem Summ-Chor der Manor-Studio-Mitarbeiter (13:48) – und alles verebbt schließlich mit Glockenschlägen über einem Orgelakkord (15:42).
Die akustische Gitarre leitet die Coda ein (17:00): Fast drei Minuten lang etablieren die Bassgitarren einen 10-Takte-Zyklus über drei Harmonien. Am Ende baut sich die Instrumente-Pyramide dann wieder auf: Eines nach dem anderen tritt hinzu, von Vivian Stanshalls sonorer Stimme vorgestellt, und stimmt in die Melodie ein, die über die zehn Takte gelegt ist – ein Frauenchor fügt dann noch schöne Variationen hinzu. Stanshalls letzte Worte: „Tubular Bells“, das Röhrengeläut, die Orchesterglocke – so kam Oldfield auf seinen Albumtitel.
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