Maurizio Pollini – Nachruf
Eine diskografische Würdigung des Jahrhundertpianisten Maurizio Pollini
Maurizio Pollini ist tot. Er überlebte seinen Freund und Kollegen Claudio Abbado um genau zehn Jahre; und war es bei Abbado ein Jahrhundertbeben, das die Dirigentenwelt erschütterte, so ist es nun ein Jahrhundertbeben für die Pianistenwelt. Und für die gesamte musikalische Welt ohnehin. Es ist immer schwierig, Künstler miteinander zu vergleichen oder gar gegeneinander aufzurechnen, aber seit dem Tod Glenn Goulds vor nun schon 42 Jahren dürfte kein Verlust ein solches Vakuum in der Musikwelt hinterlassen haben wie der Tod Pollinis.
Maurizio Pollinis Sieg beim Internationalen Chopin-Wettbewerb 1960 markiert den Beginn einer Karriere, die durch ganz außergewöhnliche technische Fähigkeiten und interpretative Tiefe voller Intellektualität gekennzeichnet sein sollte. Bleibt es in den 60er Jahren bei einigen wenigen von Helidor veröffentlichten Chopin-Recitals, so nimmt seit der Vertragsunterzeichnung bei der Deutschen Grammophon 1972 der diskografische Output rasant zu. So sind es zu Beginn im Schnitt zwei Aufnahmen, die Pollini pro Jahr gemeinsam mit dem Gelblabel veröffentlicht. Natürlich stehen auch hier Chopin-Aufnahmen am Beginn. Und dennoch: So wie Chopin hier klingt, hat es für die Zeit etwas Revolutionäres, da ist Chopin weit weg von der Seligkeit bürgerlicher Salons. Mit strenger Klarheit fegt Pollini in seiner ersten DG-Veröffentlichung durch die gesammelten Etüden. Kein Kitsch in den langsamen Etüden und ungezügelte Kraft ohne verschleppende Rubati in den schnellen Stücken, das hatte nicht nur etwas Neues, nein es hatte 1972 etwas Ungeheuerliches. Grandios dann in seiner 1974 veröffentlichten Aufnahme der Préludes op. 28, wie er etwa im G-Dur-Prélude bereits Debussy um die Ecke lugen lässt und Gassenhauer wie das e-Moll-Prélude ohne Sentimentalität in stiller Erhabenheit vorbeiziehen lässt. Was in den weiteren Veröffentlichungen folgt, ist dann der große klassisch-romantische Kanon zwischen Mozart, Beethoven, Schubert und Schumann, wobei jede Aufnahme mit einem individuellen Ausrufezeichen versehen wird, sei es 1974 Schuberts „Wandererfantasie“ oder 1977 Beethovens „Hammerklaviersonate“.
Imponierend ist, wie kompromissloslos sich Pollini für die Musik des 20. Jahrhunderts eingesetzt hat, noch in seinem letzten Konzert im Winter 2023 stand Luigi Nono auf dem Programm. Das gilt auch von Anfang an für seinen Vertrag mit der Deutschen Grammophon. Gleich nach seiner Veröffentlichung der Chopin’schen Etüden erscheint eine LP mit Strawinsky und Prokofjew, später als CD-Ausgabe noch mit Webern und Boulez auf die Spitze getrieben. Noch heute grandios, mit welch stupender Technik Pollini in atemberaubendem Tempo durch Strawinskys Markplatzgeschehen eilt, dabei aber auch immer ein Auge für die ironischen Momente der Musik hat. 1974 tritt dann erstmals das politisch wie musikalisch revolutionäre Trio Maurizio Pollini, Claudio Abbado und Luigi Nono diskografisch in Erscheinung. Alle drei sind der italienischen und der internationalen Linken verbunden und scheuen sich nicht davor, vor Arbeitern aufzutreten und mit kritischen Studenten zu diskutieren. Como una ola de fuerza y luz, das Hauptwerk der LP, ist dem verstorbenen chilenischen Revolutionär Luciano Cruz gewidmet und zeigt, wie Nono in seiner eigentümlichen Dichotomie von intimer Schönheit und brachialer Klangentfaltung das Werk seinem Freund Pollini gewissermaßen in die Finger komponiert hat.
Auffallend ist, dass sich Pollini nie zu übereilten Gesamtaufnahmen hat überreden lassen. Seine erst 2014 erschienene Gesamtaufnahme der Beethoven’schen Klaviersonaten ist über einen Zeitraum von 40 Jahren entstanden. Und dennoch wirkt sie wie aus einem Guss, vermutlich, weil der junge Pollini immer schon eine weise Altersabgeklärtheit mit sich getragen hat und der gealterte reife Pianist auch immer noch ein Stürmer und Dränger geblieben ist. Auch zwischen den Aufnahmen des ersten und zweiten Bandes der Debussy-Préludes liegen gute 20 Jahre; „Alles zu seiner Zeit“ scheint Pollinis Motto gewesen sein, er hat sich nie von seiner Plattenfirma zu etwas drängen lassen, er war auf seine ganz spezifische Art und Weise immun gegen die Begehrlichkeiten des kommerziellen Musikmarktes.
Es hat lange gedauert, bis sich Pollini Bach gewidmet hat. Auch wenn er im Konzert hin und wieder Teile des Wohltemperierten Klaviers aufgeführt hat, brauchte es nach seinem Karrierestart beim Chopin-Wettbewerb beinahe 50 Jahre, bis er 2009 die „Bibel des Klavierspiels“ auf Tonträger aufgenommen hat, wenn auch nur Band eins. Es sollte auch seine einzige Bach-Einspielung bleiben; keine Französischen Suiten, keine Partiten, nur das Wohltemperierte Klavier findet sich in seiner Diskografie. In einer beinahe spielerischen Art und Weise meißelt Pollini die Strukturen Bachs ohne Übertreibung klar und deutlich heraus. Wunderbar am Non-Legato-Spiel der Fuge in c-Moll zu hören, die bei vielen Interpreten wesentlich pointierter und abgehackter klingt. Dieses kontrastive Spiel ist es, das diese Aufnahme so hörenswert macht.
Und zum Abschluss noch ein letztes Mal Beethoven: 2022 spielt Pollini erneut die Sonaten op. 101 und op. 106 ein. Keine Altersmilde durchzieht die Interpretation, ganz im Gegenteil. Die Tempi sind forcierter als bei der ersten Aufnahme 1977, die Bögen noch geradliniger herausgespielt, eine Aufnahme, die ein letztes Ausrufezeichen setzt.
Wir verneigen uns vor einem Pianisten, dessen außerordentliche technische Präzision es ihm ermöglichte, durch komplexe Strukturen und Texturen mit scheinbarer Leichtigkeit zu navigieren und mit tiefem musikalischem Verständnis zu interpretieren.
Diskografische Anmerkung
Eine Übersicht über die Einspielungen von Maurizio Pollini bekommen Sie unter diesem Link. Da mittlerweile unzählige Reissues mit unterschiedlichen Werkzusammenstellungen erschienen sind, verzichten wir hier auf konkrete Einspielungshinweise.