Markus Reuter, Quartettmusik für das 21. Jahrhundert
Der Komponist Markus Reuter entwickelt eine klassische Tradition ganz neu.
Das Streichquartett gilt in der klassischen Musik gemeinhin als Königsdisziplin. „Man hört vier vernünftige Leute sich unterhalten, glaubt ihren Diskursen etwas abzugewinnen und die Eigentümlichkeiten der Instrumente kennenzulernen“, so formulierte Goethe seine Hochachtung vor dieser Gattung. Auch heute noch gilt die Komposition und die Uraufführung eines Streichquartetts als etwas Besonderes im Œuvre eines zeitgenössischen Komponisten, schon allein wegen der großen Traditionslinie, die ungebrochen vom 18. bis ins 21. Jahrhundert verläuft. Der 1972 geborene Komponist Markus Reuter hat nun sein erstes Streichquartett komponiert, ein faszinierendes Werk, das in seiner changierenden Harmonik und seiner rhythmischen Energie von der ersten Note an den Hörer gefangen nimmt. Das Besondere ist allerdings, dass die Uraufführung nicht im Konzertsaal stattfindet, sondern im Rahmen eines Recording-Projekts mit dem Label Solaire. Fidelity hatte die Gelegenheit, mit dem Komponisten Markus Reuter und dem Tonmeister und Produzenten Dirk Fischer in Berlin zu sprechen.
FIDELITY: Herr Reuter, ein Streichquartett bedeutet immer auch hohe Bürde: Beethoven, Schönberg, Nono, Lachenmann, nur um mal eine Traditionslinie zu skizzieren.
Markus Reuter: Ich habe mir die Last der Tradition erst gar nicht aufgebürdet, da ich die Komposition unabhängig von der Besetzung angefertigt habe. Mir ging es um das Generieren von Klängen, die zwar schon an eine Tradition anknüpfen, die aber erstmal für sich allein stehen können und für sich allein interessant sind, unabhängig von der Gattung.
FIDELITY: Das heißt, Sie haben auch beim Komponieren nicht an spezielle moderne Klangmöglichkeiten der Streicher gedacht, also das Spielen am Steg, hinter dem Steg, Bartók-Pizzikati?
Markus Reuter: Nein, das hat mich gar nicht interessiert. Mir geht es nicht darum, einen einzelnen Ton irgendwie klanglich interessant zu gestalten, was ja bei einer speziellen Spieltechnik der Fall wäre, sondern mir geht es um das Synthetisieren von Klängen, darum, wie interessante Klänge aus dem Zusammenwirken einzelner Tonstrukturen entstehen.
FIDELITY: Das heißt, die kompositorische Substanz ändert sich auch dann nicht, wenn sich etwa ein Vokalquartett dem Stück annehmen würde. Das erinnert mich ein wenig an die späten Nummern-Kompositionen von John Cage.
Markus Reuter: Exakt so ist es. Natürlich hat das Matangi-Quartett auch einzelne Töne mit interessanten Klangfarben versehen, aber für meinen Kompositionsprozess war das nicht ausschlaggebend. Meine Kompositionen sind, was die Notation angeht, nie überdeterminiert. Die Musiker haben immer die Möglichkeit, ihren individuellen Flow zu finden.
FIDELITY: Wie ist das Matangi-Quartett damit umgegangen? Mussten sich die Musiker erst intensiv mit den kompositorischen Gedanken auseinandersetzen, gab es einen eher intuitiven Zugang zu den Noten oder war es womöglich eher ein professionelles „Abspielen“ des Stücks?
Dirk Fischer: Ich kenne die Musiker des Quartetts ja schon länger und wir haben sie ganz bewusst für diese Aufnahme gewählt. Was das Matangi-Quartett auszeichnet, ist eine große Bandbreite des Repertoires, das bei Haydn anfängt, Avantgardistisches beinhaltet und auch keine Ausflüge in Pop-Gefilde scheut. Sie haben dabei diese besondere Mischung aus Offenheit und Zielstrebigkeit. Sie wissen genau, wo sie musikalisch bei einer Aufführung oder einer Aufnahme hinwollen, fragen aber auch immer wieder nach und stellen sich dem Diskurs.
Markus Reuter: Das kann ich nur bestätigen. Während des gesamten Aufnahmeprozesses hatte ich immer das Gefühl, dass die Musiker die perfekte Wahl waren.
Dirk Fischer: Als mein Bruder Tobias und ich Markus Reuter auf die Idee einer Streichquartett-Aufnahme ansprachen, hatte ich eigentlich bereits speziell das Matangi-Quartett vor Augen bzw. vor Ohren.
FIDELITY: Interpretiere ich es richtig, wenn ich die Veröffentlichung der Aufnahme als „Uraufführung“ verstehe, es also vorher keine Uraufführung in einem Konzert gegeben hat, was ja bei zeitgenössischer klassischer Musik der übliche Weg wäre.
Markus Reuter: Exakt so ist das. Für mich ist das Veröffentlichungsdatum des Tonträgers das Datum der Uraufführung. Was freilich nicht heißen soll, dass keine Konzertaufführung angestrebt ist. Es sind ja auch die Noten erhältlich, das Werk steht also allen Reproduktionsformen offen gegenüber.
Dirk Fischer: Auch für uns als Label ist dies ein ganz spannender Veröffentlichungsmodus, da ja ansonsten genau umgekehrt gearbeitet wird. Da entstehen Streichquartette für Kompositionswettbewerbe und werden dann vielleicht ein oder zwei Mal aufgeführt. Und, wenn man Glück hat, werden sie noch für den Tonträgermarkt aufgenommen, aber meist verschwinden diese Werke dann doch im sprichwörtlichen Abyss. Das Spannende bei diesem Projekt ist nun, dass auf Basis dieser Aufnahme Konzertaufführungen entstehen können und wir also die Grundlage für eine eventuelle Konzerttradition geschaffen haben.
Markus Reuter: Es ist für mich ein Hybrid-Projekt aus Komposition und Recording. Auch wenn die Komposition ganz klassisch „1. Streichquartett“ betitelt ist, so ist es doch auch eine Sammlung aus einzelnen Stücken. Es gab bei mir auch zeitweise die Idee, das Quartett „Songbook“ zu nennen.
FIDELITY: Heißt das dann auch, dass die Idee, die Komposition auch auf Vinyl zu veröffentlichen, dann eher dem Album-Gedanken entsprungen ist und weniger einem nerdig-audiophilen Klangideal?
Markus Reuter: Beides. Natürlich funktioniert Heartland eben auch als Album, deshalb die klassische Doppel-LP mit FOC. Andererseits ist Dirk Fischer mit Solaire Records für mich schon eine absolute klangliche Referenz, insbesondere was die Aufnahme akustischer Instrumente angeht, und so war es klar, dass ich gerne alle Veröffentlichungsmedien von der CD über HiRes-Files bis hin zum Vinyl bespielen wollte.
FIDELITY: Ich finde auch die Vinyl-Qualität sehr überzeugend. Wo haben Sie die LP pressen lassen?
Markus Reuter: Das ist uns über persönliche Kontakte bei Audio Anatomy/Takt in Polen gelungen, wo wir die auf 100 Exemplare limitierte Doppel-LP im Subskriptionsverfahren haben produzieren lassen.
FIDELITY: Lassen Sie uns doch noch mal explizit auf die Aufnahmesituation zurückkommen. Es ist ja kein Geheimnis, dass es bei klassischen Produktionen immer einen gewissen Konkurrenzkampf zwischen Tonmeister bzw. Produzent und den Künstlern um die letztgültige Toneinstellung gibt. Es soll Dirigenten geben, die bei einer Mahlersinfonie mit über 1000 Änderungswünschen in der Partitur beim Tonmeister vorstellig werden.
Dirk Fischer: Oh, ja – ein schwieriges Thema, mit dem ich auch schon oft konfrontiert wurde, weniger bei unserem eigenen Label, aber wenn ich für andere Plattenfirmen tätig war. Dabei ist das Problem doch ganz einfach zu lösen: Kommunikation heißt hier der Königsweg, und zwar Kommunikation auf Augenhöhe unter allen Beteiligten und am liebsten schon weit vor dem Beginn der eigentlichen Aufnahme. Die besten Resultate ohne großen Nachbearbeitungsstress erreicht man immer auf diesem Weg. Und dies war auch hier der Fall:
Markus Reuter als Komponist, das Matangi-Quartett als ausführende Künstler und ich als Produzent haben hier immer im ständigen Austauschprozess agiert, sodass der Schnittplan quasi schon während der Aufnahme festlag und spätere Nachbearbeitungen kaum ins Gewicht fielen. Die Musiker haben Vorschläge gemacht, haben aber auch bei Markus Reuter nachgefragt und sich Dinge erklären lassen, ich habe aus der Sicht des Zuhörers und Partiturlesers verschiedenste Aspekte eingeworfen und letztlich haben sich dann viele offene Fragen wie von selbst geklärt.
FIDELITY: Sie haben das Projekt ja in einer eher kleinen Kirche aufgenommen, ohne dass man allerdings diesen typischen Kirchenhall-Sound verspürt. Können Sie kurz etwas zu Ihrem Aufnahmeequipment sagen?
Dirk Fischer: Gern. Ich habe insgesamt fünf Mikrofone des Typs DPA 4006-TL eingesetzt, drei davon für das Hauptsystem und zwei weiter hinten in der Kirche sind mit 50-mm-Kugelaufsätzen versehen, die eine zunehmende Richtwirkung ab ca. 2 kHz aufwärts erzielen. Dazu kamen dann noch vier Schoeps MK4 (Niere) als Stützmikrofone. Interessant ist vielleicht noch der Crookwood-MultiPre-Vorverstärker – ein außerordentlich neutraler Preamp aus Großbritannien, der komplett symmetrisch aufgebaut ist, voller Relais steckt und dazu ferngesteuert wird, was u. a. erlaubt, die Platinen ideal für den Signalfluss aufzubauen, da nicht mit der Position der Bedienelemente Rechnung gehalten werden muss.
FIDELITY: Ich habe mich ja durch die verfügbaren Wiedergabemedien der Aufnahme durchgehört und war von der Natürlichkeit des Sounds überrascht. Nach Ihren Ausführungen bestätigt sich meine schon lange gehegte Vermutung, dass eine komplexe und durchdachte Mikrofonierung womöglich doch sinnvoller sein kann als das sagenumwobene audiophile One-Point-Recording. Markus Reuter, Dirk Fischer, wir danken Ihnen für das ausführliche Gespräch.
Markus Reuter
1. Streichquartett „Heartland“
Matangi Quartett
Label: Solaire Records
Format: CD, DL 24/192, DLP
Zu beziehen ausschließlich über solairerecords.bandcamp.com (limitiertes Vinyl nur dort), solairerecords.com, amazon.de