Lyravox Karlotta Pure – Karls kleine Schwester mag es einfach, aber gut
Lyravox befreit seine Karl-Familie vom integrierten Streamer und investiert die freigewordenen Ressourcen in ein intensives Klangtuning seiner Aktiven. Mit durchschlagendem Erfolg.
Wir müssen über meinen Freund Karl reden. Der ist ein echter Prachtkerl mit Gardemaßen, kann sanft und hart und kennt keine musikalischen Grenzen. Die würde er auch mit schierer Kraft niederreißen, würden sie ihn denn interessieren. Sein Schwesterchen Karlotta kann die Familienähnlichkeit nicht verleugnen, die kantigen Züge ebenso wenig wie die grundsätzlich schlanke Statur und die großen Augen. Glücklich werden kann man mit beiden – zumal sie nun zu mehr Freiraum einladen, sich bei manchen Dingen einfach nicht mehr festlegen, sondern das jenen überlassen, die sich für sie entscheiden. Einfachheit als Einladung.
Im Klartext: Die Karl-Familie der Hamburger Firma Lyravox war bis dato ein Paradebeispiel für sehr durchdachte All-in-one-Systeme, deren Eigner keine gesonderten Unterhaltungselektronik-Komponenten mehr brauchten. Hier war beziehungsweise ist alles eingebaut, was man zum guten Musikhören braucht: Platz sparende, mit beeindruckendem Wirkungsgrad punktende Class-D-Endstufen, um die Chassis der Mehrwege-Konstruktionen adäquat anzutreiben, ein ebenfalls integrierter DSP (digitaler Signalprozessor), der das leidige Problem „Raumeinfluss“ schnell und stimmig löst. Und last but not least ein Streamer, der sich mit den meisten Musikportalen im Netz der Netze versteht und zuverlässig für Nachschub bei der „Software“ sorgt.
Genau auf dieses Tor zur Welt verzichten die neuen „Pure“-Versionen aus dem Hause Lyravox ganz bewusst, sie sind „nur“ noch Aktivboxen mit einer sehr leistungsfähigen Prozessor-Einheit zur Raumanpassung, den Streamer-Part hat man sich geschenkt. Per Smartphone-App bedienen kann man auch die Karlotta Pure nach wie vor, nur die Quellenwahl liegt nun beim User, der sich etwas aus seinem Gerätepark aussuchen kann. Genau der ist auch die Zielgruppe: der HiFi- oder High-End-Fan, der daheim schon eine mehr oder weniger große Sammlung hochwertiger Komponenten zur möglichst perfekten Musikwiedergabe besitzt und dazu einen Schallwandler haben möchte, der mit den unterschiedlichsten Raumverhältnissen zurechtkommt und die Qualität der Quellgeräte unverwässert ans Gehör weiterreicht.
Das gelingt Karlotta in der Pure-Fassung ungemein gut. Für die aufgerufenen 24 800 Euro gibt es ein aktives Lautsprechersystem, das sich akribisch an seinen Aufstellort anpassen lässt. Wer schon einmal die unangenehme Erfahrung gemacht hat, dass die im Händler-Hörraum so überwältigend und feinsinnig klingende Box daheim zum im Verhältnis zum Klangergebnis maßlos überteuerten Brüllwürfel mutierte, der mit schrillen Höhen und der konsequenten Abwesenheit von Bässen (oder umgekehrt) den letzten Rest von Hörgenuss zum Fenster hinausblies, wird die cleveren Lyravox-Konstruktionen schnell lieben lernen. Die bei Lyravox schon länger als Maß der Dinge angesehenen Keramik-Treiber von Accuton dürfen per DSP-Anpassung ihr unzweifelhaft vorhandenes Klangpotenzial ausspielen – passiv angesteuert sind sie, da kann ich Lyravox-Entwickler Jens Wietschorke (siehe auch Infokasten) aus eigener Erfahrung nur beipflichten, schwer bis gar nicht beherrschbar.
In der Karlotta spielen die Keramikmembranen mit einem etwas konventionelleren Basspart zusammen, der aus seiner Fläche ebenso wie aus klug gewählten Übergangsfrequenzen einen angesichts der Boxengröße verblüffend tiefen, knochentrocken-knackigen Tieftonbereich generiert. Jens Wietschorke weist in diesem Zusammenhang gerne darauf hin, dass auch der beste DSP die Grundregeln der Physik nicht außer Kraft setzen kann.
Wie dieses handgearbeitete Stück Ingenieurskunst klingt? Vor allem viel größer, als man es angesichts eines 1,09 Meter hohen, 45 Zentimeter breiten und nur 19 Zentimeter tiefen Gehäuses erwarten würde. Da baut sich in Breite und Tiefe gerade bei sinfonischer Musik, aber auch bei gut aufgenommenem Jazz oder Blues ein Raum auf, der deutlich über die Wände des FIDELITY-Hörraums hinausreicht. Soweit es überhaupt möglich ist, einen Konzertsaal auch nur annähernd größenrichtig ins eigene Heim zu beamen – die Karlotta vollführt das Kunststück lässig, wenn sie einmal sorgsam auf die akustischen Verhältnisse des Aufstellungsortes eingemessen wurde, wofür sich ein Messmikrofon im Lieferumfang befindet.
Die Zeiten „gesoundeter“ Schallwandler, sie scheinen sich sehr rapide ihrem Ende zu nähern. Karlotta ist eine im besten Sinne unbeteiligt bleibende junge Dame, der man weder tonale Verfärbungen noch überbetonte Frequenzbereiche nachsagen kann. Dennoch ist sie keines jener akustisch toten oder zumindest grottenlangweiligen Messwert-Monster, die in hohen Stückzahlen von den Fließbändern der Massenhersteller purzeln. Bei Lyravox in Hamburg ist das Gehör immer noch letzte Instanz, und in die Abstimmung fließen die Erfahrungen eines Teams ein, das ganz unterschiedliche Musikgeschmäcker pfegt.
Das sorgt für die Vielseitigkeit dieses Schallwandlers, den ich mit Gustav Mahler traktiert habe und mit Cyndi Lauper. Der meine alte, schon etwas verkratzte Graceland-LP mit beinahe holografischer Räumlichkeit vor mich projizierte und mir bei Giada Bucci verriet, dass das Tonstudio, in dem die Meraner Sängerin ihr aktuelles Latin-Jazz-Album Nude aufgenommen hat, weder das größte noch das bestklingende auf diesem Planeten ist. Eine lässliche, wohl dem begrenzten Budget der im Direktvertrieb (siehe Jazzidelity in diesem Heft) angebotenen Scheibe geschuldete Sünde, zumal Karlotta mir den ganzen Drive, die ganze Frische und die ganze Euphorie dieses Grenzganges zwischen Jazz und Oper ungebremst und ungefiltert um die Ohren haut.
Dass irgendwann FIDELITY-Grafikchef Ralf Wolff-Boenisch in der Tür steht, weil er „bei diesen Pegeln nicht mehr arbeiten kann“, wie er sagt, ist ein Indiz für die gelungene Abstimmung, denn diese schon nicht mehr gesunde Lautstärke erzeugt Karlotta derart unangestrengt und selbstverständlich, wie es nur die besten Schallwandler vermögen.
Im Gegenzug sind die in mehrere Segmente unterteilten, in weißem Schleiflack auftretenden Lautsprecher auch leise eine Offenbarung, denn sie bleiben stets in der Balance und behalten ihre frappant gute Auflösung ebenso wie ihr lebendiges Naturell.
Dass der Streamer eingespart wurde, störte mich bei den Tests übrigens keine Sekunde lang, eher genoss ich die Freiheit, an Karlotta einige der aktuellen Testgeräte in der Redaktion an einem Schallwandler auszuprobieren, der zuverlässig keinen eigenen Senf dazugibt und sich im besten Sinne als unbestechlicher Monitor gibt, bei dem der Spaßfaktor nicht zu kurz kommt. Karlotta ist eben ein Mädel, mit dem man nicht nur Pferde stehlen kann, sondern den Rest des Gestütes auch gleich mitnimmt und sich dabei seines Lebens freut.
Am Ende hat das Gehör das letzte Wort – Zur Entwicklung der Lyravox Karlotta Pure
Als ich Jens Wietschorke am Handy erreiche, macht der Klangmeister gerade eine Pause. Denn in Hamburg wird Handarbeit noch großgeschrieben. Auch die Karlotta Pure „ist ein echtes Manufakturprodukt“, betont Wietschorke. Deshalb ist die gehörmäßige Abstimmung als letzter Entwicklungsschritt mindestens so wichtig wie alle akustischen Berechnungen und physikalischen Testreihen. Warum Lyravox eine Streamer-lose Version seiner Karl-Familie, zu der auch die Karlotta zählt, auf den Markt bringt? „Um die Flexibilität zu erhalten“, sagt Jens Wietschorke. Im hektischen Digitalzeitalter würden sich die gerade angesagten Streamingportale ebenso rasant verändern wie ihre Zugangsprotokolle. Da sei es nicht nur für Poweruser manchmal sinnvoller, wenn ein zentrales Quellgerät wie der Streamer austauschbar beziehungsweise sehr schnell upzudaten sei. Zudem spiele Internet-Musik beispielsweise in Ländern wie China aus politischen Gründen kaum eine Rolle: Dort sind traditionelle Quellgeräte wie CD-Player oder Plattenspieler noch viel stärker nachgefragt als hierzulande.
Wer sich Karlotta von vorn anschaut und sich ein wenig in der Welt der High Fidelity auskennt, hat schnell den Begriff „D’Appolito-Anordnung“ in Bezug auf die Lautsprecherchassis im Kopf. Was nicht ganz richtig ist. „Nach der reinen Lehre ist das kein echtes D’Appolito-Prinzip“, gibt Jens Wietschorke zu. Die Trennfrequenz im Tiefton etwa sei mit leicht über 2000 Hertz höher als in den D’Appolito-Spezifikationen vorgegeben. „Das ist von uns so gewollt, weil es eine dezidierte Richtcharakteristik erzeugt“, führt Wietschorke aus. Die gerichtete Schallabstrahlung bringe zudem Boden und Decke nicht so stark zum (unerwünschten) Mitschwingen.
Auch im Hochtonbereich spielt Jens Wietschorke mit den akustischen Parametern: Es gibt einen „Deckelhochtöner“, der nach oben abstrahlt und keine andere Aufgabe hat, als den Raum „mit Hochtonenergie zu fluten“, wie es Wietschorke formuliert. Dies komme der Räumlichkeit und der Ortbarkeit zugute. Nicht umsonst seien inzwischen Musiker wie der Pianist Alexander Krichel öfter zu Gast bei Lyravox; Krichel hört mit Lautsprechern der Karl-Serie die Masterbänder seiner Musikproduktionen gegen: „Da hört er eine Stunde und erzählt uns vier Stunden etwas über klassische Musik“, grinst Jens Wietschorke.
Karlotta und ihre Geschwister entstehen laut Wietschorke in einem „iterativen Prozess“: „Man hat eine Idee, macht den Grundaufbau, hört hinein, misst den Testaufbau durch, hört sich die einzelnen Wege des Lautsprechers gesondert an, vergleicht Gemessenes mit Gehörtem und intoniert den fertigen Lautsprecher am Schluss nach Gehör“, zählt Wietschorke auf. Während der Entwicklung werden Trennfrequenzen verschoben, Dämmmaterial ins Gehäuse gestopft und wieder herausgenommen, Wände verstrebt und verstärkt und Dimensionen hinterfragt. Viele clevere Detaillösungen helfen auf dem Weg zum guten Klang. So sind auch die Spalte zwischen den Gehäusemodulen kein Designgag, sondern leiten einen Teil des Mitteltonspektrums zur Lautsprecher-Rückseite: Karlotta soll auch von hinten gut klingen, ohne ein klassischer Dipol zu sein.
Ganz wichtig ist, dass das Zusammenspiel von Schallwandler und Aufstellungsort stimmen muss und dass der digitale Soundprozessor im Grunde nur die Feinabstimmung erledigt. „Der Raum ist unser Freund, nicht unser Feind“, betont Jens Wietschorke. Das Ergebnis gibt ihm recht.
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Lyravox Karlotta Pure
Vor den Genuss haben die HiFi-Götter das Einmessen gesetzt. Danach spielt die Lyravox Karlotta in praktisch jedem Raum maximal gut und ist dabei extrem genügsam.
Info
Lyravox Karlotta Pure
Funktionsprinzip: aktiver 2-Wege-Kompakt-Standlautsprecher (angeschraubter Fuß), integriertem Subwoofer und zusätzlichem Super-Hochtöner
Bestückung: 30-mm-Hochtöner, 2 x 7″-Mitteltöner, 25-mm-Diffusfeld-Hochtöner, 12″-Subwoofer (nur links)
Maße (H/B/T): 109/45/19 cm (ohne Standfuß, Tiefe des Fußes: 38 cm)
Gewicht: 55 kg
Eingänge analog: 1 x XLR, 1 x Cinch
Eingänge digital: 1 x SPDIF coaxial, 1 x SPDIF optical, 1 x AES/EBU
Besonderheiten: automatische Quellenumschaltung „Auto-Detect“; Ansteuerung des Lautsprecherpaars nach dem Master-Slave-Prinzip
Leistung der eingebauten Endstufen: 6 x 500 W (Class D)
Garantiezeit: 3 Jahre
Paarpreis: 24 800 €
Kontakt
Lyravox Gerätemanufaktur
Hopfensack 14
20457 Hamburg
Telefon +49 40 320897980
Mitspieler
CD-Player: Audio Note Zero, Mark Levinson 390s
SACD-Player: Marantz SA14 V1, Sony SCD 333 ES, Pioneer D6
Plattenspieler: Clearaudio Innovation Compact, SoReal Audio Seismograph, Dr. Feickert Volare
Tonabnehmer: Clearaudio Da Vinci und Jubilee MC, Denon DL-103R
Vollverstärker: Audio Note iZero, Marantz HD-AMP1
Vorverstärker: Mark Levinson No. 38S, Trigon Snowwhite, Marantz SC-22
Endverstärker: Mark Levinson No. 27, Marantz MA-22, John Curl JC3, Trigon Dwarf II
Phonoverstärker: Musical Fidelity M-VNYL, Clearaudio Basic
Lautsprecher: KEF R900, Infinity Kappa 7.2 Series II, MuSiCa NoVa PlethorA