Lyravox Karlos Pure – Von Sucht und Zeitraub
Egoismus ist ein mächtiger Antrieb. Denn was man für sich selbst macht, das erledigt man mit angemessener Sorgfalt. Und davon profitieren oft auch andere. Lyravox‘ Karlos ist ein perfekter Anlass, um die negative Wertung des Begriffs zu hinterfragen.
Der erste Schritt zur Genesung ist das Eingeständnis der Sucht. Seit Wochen schon räkel ich mich allabendlich auf meinem Sofa, nehme dabei Haltungen ein, die jeden Orthopäden in ein Wechselbad aus Lach-, Schrei- und Weinkrämpfen stürzen würden. Um mich herum Fernbedienungen, ein smartes Tablet sowie täglich wechselndes Knabberzeug. Auf dem Fußboden breiten sich Plattencover aus: Holsts Planets, Radioheads In Rainbows, Black Sabbaths Black Sabbath, Depeche Modes Music for the Masses – von allem etwas dabei. Während ich die ersten Zeilen dieses Artikels schreibe, flehen mich Cream um „Just a little Spoon of your precious Love“, um sich kurz darauf in eins der ersten wirklich wilden Soli der Musikgeschichte zu verlieren. Es ist lange her, das ich derart gedankenverloren in Musik abgetaucht bin und praktisch jede freie Minute durchgehört habe. So langsam erscheint mir die Sache … suspekt.
Begonnen hat das herrliche Ungemach zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort. Mitte Oktober besuchte uns eine Delegation aus Hamburg. Götz von Laffert und Jens Wietschorke, treue FIDELITY-Leser werden die Lyravox-Gründer sicher kennen, hatten die lange Reise auf sich genommen, um ihren „kleinsten“ in Ismaning abzuliefern: Karlos Pure. Um ehrlich zu sein, eine Wahl hatten Sie nicht. Zu den Geheimnissen von Señor Karlos gehört seine DSP-gestützte Anpassung an den Hörraum. Sofern sich der Kunde nicht mit Händen und Füßen wehrt ist der persönliche Bringdienst fester Bestandteil jedes verkauften Lautsprecherpaares. Kaum hatten die beiden unseren Hörraum betreten schlängelten sich dutzende Meter Strippen wie wildwüchsige Ranken durchs Zimmer, während sich Herr Wietschorke mit Laptop und einem kalibrierten Messmikrofon auf dem Sofa einrichtete. Kurz darauf waberten die ersten Messignale durch den Raum und das versierte Spiel mit hertzgenau justierbaren Equalizern, Kurven und Gegenkurven nahm seinen Lauf. Dann und wann verlangte von Laffert einen „musikalischen Gegencheck“, vorzugsweise mit Klassik und audiophiler Kost, den er stets nutzte, um mit kritischer, fast mürrischer Miene durch den Hörraum zu schreiten und die Raumausleuchtung zu kommentieren. Als mittlerweile erfahrener Kenner dieser Prozedur kann ich Ihnen einen Trick verraten: Eine gelegentliche Tasse Kaffee beschleunigt das sympathische Duo merklich. Sie beschweren sich aber auch nicht, wenn man sie einfach für eine Weile allein lässt.
Konzeptverständnis
Lautsprecher wie der lifestylige Hamburger kämpfen mit einem glücklicherweise schwindenden Imageproblem – oder sollte ich lieber Missverständnis sagen? Verglichen mit anderen Boxen seiner Größe erscheint Karlos auf den ersten Blick verflixt kostspielig. Das wir es mit Lyravox‘ günstigster Box zu tun haben, ändert wenig daran, denn bei einem Paarpreis ab 11.800 Euro – auf Nachfrage sind allerlei Farbwünsche möglich – muss sich „Otto Normalverbraucher“ nicht für seine kurzfristige Schnappatmung schämen. Bei näherer Betrachtung stellt sich die Sache jedoch vollkommen anders dar. Karlos ist ein Aktivlautsprecher. Neben tollem Aussehen und drei hochkarätigen Chassis bringt er ein passendes Verstärkermodul mit, ein Hypex NCore, falls Sie solche Details interessieren. Man sollte nicht den Fehler machen, diese Integration allein nach der gebotenen Wattzahl zu beurteilen. Die ist stattlich, zugegeben: je 500 Watt leisten die Class D-Kraftzellen jeder Box, der maximale Schalldruck übersteigt damit spielerisch und stressfrei die Fähigkeiten selbst größerer Räume. Und für analoges Feeling ist auch gesorgt: Aus klanglichen Gründen verzichtet Lyravox auf einen Limiter, weshalb man die Treiber hörbar an ihre Belastungsgrenze führen kann, was in geschlossenen Räumen jedoch mehr als unwahrscheinlich ist.
Viel entscheidender als die Leistung ist für das Konzeptverständnis jedoch, dass der Verstärker sprichwörtlich als erster Bestandteil des Lautsprechers auf dem Tisch lag. Jeder weitere Aspekt wurde daraufhin um die duale PWM-Kraftzelle herumkonstruiert. Die übliche Suche nach einer überzeugenden Kombination aus Verstärker, Lautsprecher und passender Verkabelung entfällt für den Kunden. Es ist nur logisch, dass sich Hobbyisten da nicht heimisch fühlen. Karlos bietet ihnen keine Angriffspunkte zum Ausprobieren alternativer Strippen oder sonstigem Feintunings. Doch es gibt eine wachsende Klientel, die gerade das begeistert: Sie können unbeschwert die harmonische Abstimmung und die grenzenlose Musikalität genießen.
Lyravox setzt dem Konzept allerdings noch eine Krone auf: Per Definition sind Aktive meist nur mit gematchten Endverstärkern ausgestattet. Karlos jedoch besitzt auch eine digitale Vorstufe, die weißen Schallwände lassen sich über ihre beigelegte Aluminium-Fernbedienung regeln. Wir haben abgesehen von den Quellen also eine komplette Highend-Kette inklusive Hochbit-DACs vor uns, was den aufgerufenen Preis relativiert. Zugang zur Vorverstärkung gewähren zwei analoge (Cinch/XLR) und drei digitale (AES/elektrisch/optisch) Anschlüsse. Signalwahl, Pegel und Equalizer sind Sache ein- und desselben Elektronengehirns. Analogliebhaber mag die Aussage irritieren, doch bietet die zentralisierte DSP-Intelligenz einen unschlagbaren Vorteil: Sämtliche Bearbeitungsschritte erfolgen mit Blick auf Phasenlinearität. Egal ob in der (simulierten) Hochbit-Vorstufe oder im bisweilen heftigen EQ-Hagel – der zeitliche Kontext der Signale bleibt unberührt, die Musik wahrt ihren Groove. Aktivboxen wie Karlos rocken daher oft ab der ersten Sekunde! Mit analogen Schaltungen wäre das in solcher Vollendung schlichtweg unmöglich.
Damit sind Herr von Laffert und Herr Wietschorke aber nicht zufrieden. Ihr Karlos soll gefälligst mit Stil rocken. Daher geben sie sich akribische Mühe beim Einrichten und Beurteilen ihrer DSP-Feinabstimmung, diskutieren Klangnuancen, die ich nicht einmal bemerke. Tatsächlich wird mir beim Beobachten der beiden schnell klar, dass sie sich mehr auf ihre Ohren verlassen als auf die Messkurven des Laptops: Klingt alles, wie sie es aus unserem Referenzraum kennen, wippen die Füße mit? Da sie nicht zum ersten Mal in Ismaning sind, kennen Sie unseren Hörraum, was den Prozess beschleunigt. Schrittweise bemerke ich, wie der Bass druckvoller wird, sich zugleich merklich strafft und wie die Höhen allmählich ihren seidigen Glanz entfalten, ohne an Brillanz oder Klarheit einzubüßen. „Die Raumentzerrung ist lediglich ein Addon“, erinnert Jens Wietschorke während der Prozedur. Die Inbetriebnahme von Karlos läuft daher ab wie bei jedem anderen Lautsprecher. Vor der digitalen Justage wird positioniert, gerückt, ausgerichtet und so lange probiert, bis alles perfekt scheint. Und wenn der Raum per se schon gut klingt, wirkt das freilich auch wohltuend auf die DSP-Optimierung.
Die Einmessung von Karlos ist eine Angelegenheit für Fachpersonal. Das Laptop des Entwicklers ist mit Treibern ausgestattet, die einen Zugang in die Eingeweide des Lautsprechers öffnen. Noch ehe das Setup losgeht, muss allerdings eine Grundsatzentscheidung getroffen werden: Beide Boxen sind identisch ausgestattet, es gibt jeden Anschluss sowie DSP doppelt. In der Praxis kann aber nur eins der Terminals verwendet werden. In unserem Fall erklären wir den rechten Karlos zum Master, den linken degradieren wir zum folgsamen Slave. Alle Quellen müssen fortan in den Master eingespeist werden, die bearbeiteten Signale werden von dessen Prozessor an den S/PDIF-Abgriff gereicht, der sie über eine lange Digitalstrippe an den anderen Kanal durchreicht. Lyravox liefert sein bildhübsches Boxenpaar mit ausreichender Verkabelung (5 Meter) und langen (3 Meter) Stromleitern von ViaBlue.
Außerdem muss es nicht bei einer einzelnen Einmessung bleiben. Die Fernbedienung und winzige Taster am Rücken der Lautsprecher bieten Zugriff auf drei Speicherplätze: Einer für eine lineare Abstimmung (EQ-Bypass) sowie zwei mit programmierten Klang-Setups. Jeder der drei Speicherplätze ist mit einem primären Eingang verknüpft. So könnte man sich eine wuchtigen Filmton-Abstimmung einrichten lassen, der beim Aktivieren den optischen Eingang aufruft, während das straffere Musik-Setup auf den elektrischen S/PDIF-Eingang verlinkt ist. Grundsätzlich stehen aber alle Eingänge in sämtlichen Presets zur Verfügung. Die erstmalige Einmessung und Einrichtung berechnen die Hamburger übrigens mit „hypothetischen“ 500 Euro, die in der Praxis mit dem Kaufpreis verrechnet werden. Man sollte das trotzdem im Hinterkopf behalten, sollte man einen Umzug mit Karlos planen oder den Hörraum umverlegen. Dann ist nämlich eine neue Einmessung erforderlich.
Gut für mich, gut für dich
Beim späteren Essen umreißt Götz von Laffert vom Werdegang seiner kompakten „Wall of Sound“. „Eigentlich wollte ich den Lautsprecher nur für mich“, erklärt er. Er habe nach einer Lösung für sein eigenes Wohnzimmer gesucht, in dem zu große Boxen eher problematisch sind – klanglich und optisch. Er entwickelte ein grobes Konzept, das eher durch Zufall Einzug in die Serienfertigung hielt: Das Lyravox-Portfolio sollte ohnehin um ein Modell der 10.000-Euro-Klasse ergänzt werden. Und da von Lafferts Traumbox nur etwas kostspieliger ausfiel, erwies sie sich als Volltreffer. Außerdem dürfte den beiden schnell klar gewesen sein, welches Potential in ihrer kleinsten schlummert. Und so packte sie der Ehrgeiz „alles aus dem Konzept herauszukitzeln“. Von Lafferts Eigennutz förderte das vielleicht interessanteste Aktivmodell der Hamburger zutage.
Der Lautsprecher erhielt einen Namen der „Karl“-Baureihe, obwohl er mit mehreren Traditionen der ambitionierten Serie bricht. Zum einen ist Karlos ein Zweiweg-Lautsprecher. Götz von Laffert selbst ist Fan des Konzepts und weiß, dass sich weniger Wege mit geringeren Problemen in den Griff bekommen lassen. Und ein DSP klingt dann am besten, wenn er kaum arbeiten muss. Als Basstrieber fügte Wietschorke einen Aluminium-10-Zöller von ScanSpeak hinzu, den er vom Hersteller mechanisch an die Anforderungen der Aktiven anpassen ließ. Als Hochtöner wählte er einen exzellenten Keramik-Tweeter von Accuton. Bruch Nummer zwei liegt im aufwändig gedämmten, jedoch nahtlosen MDF-Gehäuse. Die übrigen Karl-Derivate sind segmentiert und bieten jedem Chassis sein eigenes, von allen übrigen isoliertes Volumen. Auch das war ein Wunsch von Lafferts. Zudem halfen auch hier die „abgespeckten“ zwei Wege, die Gehäuseruhe und Klangvorgaben der größeren Geschwister ins kleine zu übertragen. Weil das Ergebnis als reiner Standlautsprecher etwas untersetzt gewirkt hätte, fügten die beiden schließlich noch einen Tragrahmen aus schwarz lackiertem Eschenholz hinzu – ein Material, das im Instrumentenbau genutzt wird. Und dann gibt es natürlich noch jene Kleinigkeit, die mich dazu veranlasste, die Box ins heimische Wohnzimmer zu überführen.
Unsere Redaktion befindet sich in einem Gewerbebau und wie heute üblich, sind sämtliche Räume mit abgehängten Akustikdecken ausgestattet – Sie wissen schon: diese Deckenplatten mit unzähligen Mikrolöchern. Die sind großartig für die Sprachverständlichkeit, erweisen sich aber als pures Gift, sollte man ausnahmsweise auf ein Mindestmaß an Reflexion angewiesen sein. Genau das kann bei Karlos nicht schaden: Wie alle Modelle seiner Familie besitzt er einen nach oben gerichteten Super-Hochtöner an der Gehäuseoberseite, der über den Verstärker des Tweeters betrieben wird und die höchsten Höhen wie einen Glitzerregen über die Zimmerdecke in den ganzen Raum zerstreut. Wietschorke und von Laffert demonstrierten die Wirkung des Ambience-Treibers mit einem simplen Trick: Man kann eine CD-Hülle auf den von einem filigranen Gitter geschützten AMT-Treiber legen und schon schweigt er. Der Unterschied war bereits im FIDELITY-Hörraum unbegreiflich. Die beiden Super-Hochtöner heben die Musik regelrecht empor und geben der Abbildung eine schier atemberaubende Größe und Dimension.
In meinem Wohnzimmer kam der Effekt erwartungsgemäß deutlich intensiver zum Tragen. Karlos hüllt mich auf dem Sofa in eine regelrechte Klangwolke. Instrumente und Sänger stehen nicht nur auf der plastisch umrissenen Bühne, sie scheinen stets einige Zentimeter über ihr zu schweben, was der Wiedergabe eine betörende Leichtigkeit und endlose Tiefe verleiht. Nicht von ungefähr habe ich bei den eingehenden Plattencovern Holsts Planets erwähnt. Kenner der Materie können sich bildhaft vorstellen, wie imposant und mitreißend Mars, Saturn und Co. in den vergangenen Tagen vor nachtschwarzem Hintergrund durch meinen Wohnraum kreisten. Etliche Stunden verbrachte ich zudem mit den federleicht-chilligen Klängen des schottischen Duos Boards of Canada, dessen Tonfall hier und dort an die frühen Werke von Air erinnert, der aber eine sehr eigene, zuweilen eigenartige Stimmung besitzt. Es müssen aber nicht zwangsläufig sphärische Klänge sein. Auch die brettharten Remixe der frühen Black Sabbath-Aufnahmen (Stichwort: „Ossy“), die ich in 24 Bit und 96 Kilohertz via Roon von Audiodatas Musikserver MS II abfeuerte, entfalteten ihre packende Wirkung. Mit fast ungestümer Kraft und herausragendem Timing bläst Karlos Tony Iommis Riffs ins Zimmer – gerade so, als wüsste er, dass hier Grobmotorik gefordert ist. Den Raum mit seinen knapp 40 Quadratmeter hat der impulsive Lautsprecher zu jeder Zeit perfekt im Griff und ich kann mich nicht entsinnen, ob ich je passive im Raum hatte, die eine vergleichbare Performance lieferten. Nur auf eine Kleinigkeit muss ich verzichten: Durch den Ortswechsel ist die DSP-Abstimmung unbrauchbar und ich halte mich ans strikt Linear-Programm. Immerhin, ich weiß so, dass Karlos sogar noch etwas besser auftischen könnte. Aber dann käme ich vielleicht nie mehr hier weg …
Wir meinen
Wir könnten über die Dynamik, Präzision, Abbildungsgröße, Natürlichkeit oder die highendige Ausgefeiltheit des Lautsprechers schwärmen. Aber das wäre kaum zielführend: Karlos wurde entwickelt, um seinem Schöpfer Spaß zu machen. Und genau das ist seine größte Stärke. Bedingungslos!
Info
Lyravox Karlos Pure
Konzept: Zweiweg-Aktivlautsprecher mit Hochbit-Digitalvorstufe und DSP-Raumkorrektur
Anschlüsse analog: Cinch (stereo), XLR (mono)
Anschlüsse digital: S/PDIF optisch, S/PDIF elektrisch, AES/EBU
Ausgänge: S/PDIF elektrisch, AES/EBU, analog (XLR, mono)
Treiber: ScanSpeak-Bass (10 Zoll Aluminium), Accuton-Tweeter (1 Zoll Keramik), Super-Hochtöner (AMT)
Verstärker: je Lautsprecher 2 x 250 Watt (Hypex NCore)
Signalverarbeitung: Hochbit D/A-Wandler (max. 24/192), Hi-Res DSP-Preamp Modul, digitale Raumentzerrung und Frequenzweiche inkl. digitaler Phasenkorrektur
Maße (B/H/T): 40/70/19 cm
Gewicht 22 Kg
Garantie: 3 Jahre
Preis: ab 11.800 Euro (auf Nachfrage sind aufpreispflichtige Wunschfarben möglich)
Kontakt
Lyravox
Jaffestraße 6
21109 Hamburg
+49 40 320897980