Lyra Kleos SL – Nackt im Wind
Low-Output, kein Gehäuseschutz, ein Eckchen Japanpapier – so baut Lyra Tonabnehmer. Kann sich das Kleos SL in der Praxis bewähren? Ein Marathontest
Noch nie musste ein Tonabnehmer einen so anspruchsvollen Langzeittest überstehen wie das Lyra Kleos SL. Zumindest nicht in FIDELITY. Ich erinnere mich noch daran, wie ich auf der HIGH END 2014 Thomas Fast von fastaudio meinen Plan darlegte, eine Reihe von Tonarmen auf demselben Laufwerk mit identischen Abtastern zu testen. Der Vertriebsleiter war sofort begeistert. Das änderte sich auch nicht, als ich ihm eröffnete, dass unbedingt ein System von Lyra dabei sein sollte, und selbst dann noch nicht, als ich ihm das unverblümte Angebot unterbreitete, die einmalige Chance wahrzunehmen, als Materialsponsor diese Testreihe zu begleiten. Nach einer kurzen Diskussion über meine Anlagenkonfiguration beschlossen wir mit der verhältnismäßig neuen und nur auf Bestellung gefertigten Low-Output-Variante des Kleos aufs Ganze zu gehen.
Man kann bei Lyra auch die dreifache Summe der rund 3000 Euro, die für das Kleos fällig werden, ausgeben, und wird dafür reichlich belohnt, wie ich aus eigener Erfahrung mit Vorführungen von Thomas Fast bestätigen kann. Dennoch ist das Kleos, insbesondere als Kleos SL, ein außergewöhnlich interessantes System, weil es das günstigste Lyra ist, dessen Generator vom sagenumwobenen Meister Yoshinori Mishima persönlich finalisiert wird, und weil es in der richtigen Konfiguration durchaus mit einem Etna konkurrieren kann. Zum einen hat das SL-Modell einen entscheidenden Gewichtsvorteil – SL steht für Single Layer, also nur eine Lage Spulenwindungen aus Kupfer – zum anderen bringt es mit der New-Angle-Technik ein Merkmal aus der absoluten Oberklasse mit. Im Gegenzug fordert es aber erstklassige, hohe und rauschfreie Verstärkung, seine Ausgangsspannung ist mit lediglich 0,25 mV spezifiziert. Am Lehmann Decade, an dem es lange Zeit lief, oder an meiner MFE-Vorstufe, in der Michael Franken früher schon für mein AT50ANV die Standard-MC- gegen 1:20-Übertrager getauscht hatte, hatte ich nicht das Gefühl, etwas zu vermissen – aber besser geht wohl immer. Zumal das Kleos SL jede Optimierung deutlich quittiert.
Lassen Sie mich zunächst wieder einen Schritt zurück zum New-Angle-Konzept machen. Dahinter steckt eine im Grunde sehr einfache Beobachtung: Die Spulen fast jedes MC-Tonabnehmers stehen symmetrisch im Magnetfeld – allerdings nur, solange keine Auflagekraft wirkt. Dass sich der Winkel eines Nadelträgers verringert, sobald man ihn auf die Platte senkt, lässt sich leicht beobachten (aus seinem exakten Nachgeben auf eine definierte Kraft resultiert die Compliance), dass dieser Nadelträger bis zu den Spulen und Dämpfungsgummis im Systemkörper weiterhin gerade verläuft, darf man antizipieren, und dass Erstere damit aus der perfekt symmetrischen magnetischen Flussdichte fallen, scheint nachvollziehbar. Ob dies tatsächlich ein nennenswertes Problem darstellt, fällt mir schwer zu beurteilen. Für Jonathan Carr, den Lyra-Chefentwickler, steht hingegen fest: Übliche Tonabnehmer treffen auf suboptimale Arbeitsbedingungen, auch wenn sie perfekt justiert sind.
Um sie zu verbessern, hat Carr die Tonabnehmer-Geometrie vom Kopf auf die Füße gestellt und sich asymmetrische Dämpfer ausgedacht. Auf einem Schaubild wirkt es, als weise der hintere Dämpfer in Ruheposition eine leichte Keilform auf, die sich begradigt, sobald die Auflagekraft darauf drückt. Dadurch befinden sich Spulen und Nadelträger ohne Belastung zwar außerhalb des idealen Magnetfelds – man kann das am Nadelträger, der beinahe am unteren Rand seines kreisrunden Ausschnitts anstößt, schön beobachten – aber ein System muss sich ja in der Praxis und nicht auf der Hebebühne beweisen. Sobald man das Kleos SL in die Rille senkt, „begradigt“ sich der Nadelträger und das Spulenkreuz befindet sich exakt im rechten Winkel zum Fluss des Magnetfelds. Vorausgesetzt, die Auflagekraft wird penibel eingehalten, weshalb Lyra nicht müde wird, die Bedeutung dieses Parameters zu betonen. 17 bis 18 mN, also 1,7 bis 1,8 g sollen es sein, als Idealwert gelten 1,75 g, wobei einige Spezialisten behaupten, erst bei 1,78 g ginge die sprichwörtliche Sonne auf. Obwohl ich kein großer Freund neurotischer Pedanterie bin, muss ich feststellen, dass da leider etwas dran ist. Das Kleos SL reagiert sensibler auf seine Auflagekraft als andere Systeme, und Feinabstimmung nach Gehör ist obligatorisch. Glücklicherweise kann man auch kleinste Veränderungen gut im Klangbild festmachen, und bei einigen Armen zeigte das Kleos SL die Grenzenlosigkeit, an die ich mich schnell gewöhnt hatte, erst knapp unter dem empfohlenen Maximum.
Das Kleos wird sich mit dem Gros der mittelschweren Arme gut vertragen, dennoch ist für mein Dafürhalten die Güte des Tonarms wichtiger als dessen effektive Masse. Der Edel-Abtaster möchte Führung, die die extreme Feinauflösung auch transportieren kann. Zwar gibt sich das Kleos unprätentiös und zeigt seine Qualität auch an Tonarmen tieferer Preisklassen, exemplarisch etwa am Thorens TP92, wo es zwar etwas rundlich, aber im besten Sinne geschmeidig spielte, blüht aber regelrecht auf an hochwertigen Armen mit filigraner, durchlässiger Klangstruktur. Unabhängig von der absoluten Qualität der Arme gefiel es mir beispielsweise im Brinkmann 12.1 besser als im Kuzma Stogi Reference, wohingegen es mit meinem Referenzsystem AT50ANV genau andersherum war. Für alle, die wie ich das (möglicherweise obsolete) Vorurteil der Blutarmut gegenüber Lyra pflegen, mag es verrückt klingen, aber das Kleos bringt die nötige Fülle und Farbigkeit bereits mit, das Audio Technica ist für ein wenig Unterstützung des Tonarms dankbar. Eine Beobachtung, die ich während des langen Testzeitraums öfter machte und die wieder einmal zeigt, wie komplex die Tonarm-Abtaster-Beziehung ist. Theoretisch sind sich die beiden japanischen Systeme nämlich ziemlich ähnlich (Jonathan Carr dürfte das anders sehen): extrem niedrige Ausgangsspannung, fantastische Feinauflösung und schlanker Charakter dank Resonanzfreiheit. Bestätigt findet sich diese Annahme aber letztlich nur im Moerch DP8, an dem beide Systeme über sich hinauswachsen und das Kleos eine Performance hinlegt, die mit vernünftigem Materialeinsatz kaum zu toppen sein dürfte.
Wie alle Lyra-Systeme verfügt auch das Kleos SL über kein Gehäuse, sein Generator wird lediglich von einem Stück Washi-Papier vor Staub und neugierigem Zugriff geschützt. Ein bisschen dürftig, dieses „Wischi-Waschi-Papier“, dachte ich immer, musste mich aber in den letzten beiden Jahren davon überzeugen lassen, dass dieses Eckchen Japanpapier wirklich fest klebt. Im optischen Eindruck erscheint das Kleos nach mehreren hundert Betriebsstunden fast neuwertig; etwas Schmutz, der das imprägnierte Papier in Nähe der Nadel dunkler färbt, lässt sich relativ leicht abtupfen. Im Grunde und zu meiner nicht geringen Überraschung erwies sich das Kleos als vollumfänglich alltagstauglich. Mit einigen winzigen Einschränkung freilich: Die Kabelkontakte an den Headshells aller getesteten Tonarme waren ein wenig zu weit für die Pins des Kleos, was mich irgendwann zu dem Schluss verleitete, dass diese Pins möglicherweise etwas dünn geraten sind. Andererseits stellt es für Plattenspielerbetreiber sicher kein nennenswertes Problem dar, Kontakte eine Winzigkeit nachzubiegen. Die größte Hürde für alle, die gerne ein Kleos SL genießen möchten, bleibt die Verstärkung. Unterschätzen Sie die Empfänglichkeit eines Low-Output-Systems gegenüber dem Grundrauschen der modernen Welt nicht!
An der MFE-Vorstufe mit DNM-Leistungsverstärkung blieb immer, wenn die Vernunft unerwartet obsiegte, noch reichlich Pegelreserve; am Genuin Straight mit noch weniger Leistung, ebenfalls inklusive des Phonozweigs der Tube One, gelang es mir hin und wieder den kritischen Bereich zu touchieren, was sich aber spürbar nur in erhöhtem Rauschen in der Leerrille manifestierte, wo in einem vernünftig abgestimmten Umfeld, wie ich es mit dem höher verstärkenden Lehmann Decade ebenfalls zur Verfügung stellen konnte, absolute Stille herrschte. Allerdings nicht diese Art von den Hörer förmlich umschließender tiefschwarzen Dunkelheit, wie sie ein Clearaudio da Vinci kreieren kann, sondern eine irgendwie professionellere Schwärze, so schwarz wie eine weiße Leinwand, auch wenn die Metapher ganz schön hinkt. Gemeint ist, dass das Kleos SL eine neutrale schwarze Fläche bietet, die bearbeitet werden kann, während das Top-System da Vinci schon ohne Signal einen dunklen Raum auftut. Was wiederum keinesfalls heißen soll, dem Kleos mangele es an räumlicher Darstellung: Wenn es die Aufnahme hergibt, geht es so weit in die Tiefe, dass man eine Stirnlampe bräuchte, um genau zu erkennen, wo die Wiedergabe aufhört und die Stille der Unendlichkeit anfängt.
Im Umkehrschluss verlieren, wie mit fast jedem guten Tonabnehmer, stark komprimierte Aufnahmen, denen Details und Feindynamik entzogen wurden, gänzlich an Reiz. Das Kleos SL mit seiner fast kindlichen Lust, jedem Glöckchen oder jeder Cowbell, auch auf älteren, bisweilen schwammigen Live-Aufnahmen zu folgen (Dylan & The Band – Before The Flood), verweigert bei modernen untoten Zombie-Mixes (Metallica – Death Magnetic) regelrecht den Dienst. Man könnte das als herablassende Demaskierung deuten, es ist aber wohl weniger Arroganz, als vielmehr Unlust; resultierend aus der puren Lust, Musik zu reproduzieren, die sich ins Gegenteil verkehrt, sobald wichtige Schlüsselreize fehlen. Mitnichten nämlich legt es das Kleos darauf an, alles zu dekonstruieren und keine Ruhe zu geben, bevor nicht die nackte, uneuphonische Analyse vorliegt, sondern es zeigt Empathie, hat ein Herz für Musik. Die sezierende – im Sinne von dividierende, wie ich sie älteren Lyra-Systemen auch gerne vorgeworfen habe – Spielweise ist, zumindest im vorliegenden Fall, einer durchleuchtenden, vereinnahmenden gewichen. Das Kleos SL klingt gleichermaßen hochauflösend und ganzheitlich – ein Seiltanz über Messers Schneide auf dem Vulkan.
Die totale Klarheit und luzide Transparenz des Kleos erinnert wohl nicht von ungefähr an EMT. Der Verzicht auf ein Generatorgehäuse scheint diese gefühlte Freiheit von Artefakten zu begünstigen und Eigenheiten der restlichen Anlage stärker hervortreten zu lassen. Es ist das perfekte Instrument, um selbst feinsten Unterschieden von Spitzentonarmen auf den Zahn zu fühlen. Am – wie der DP-8 – extrem filigranen Reed 3P beispielsweise klang die elektrische Orgel auf „Little Sad Eyes“ (Magnolia Electric Company – Josefine) ähnlich schwerelos hingetupft, aber nicht ganz so losgelöst. Dafür erhielt sie eine sanfte, nicht unsympathische, glühende Färbung in ihrer Mitte. Darüber hinaus hat mich in den vergangenen beiden Jahren trotz der strengen Neutralität des Kleos immer wieder seine Toleranz gegenüber imperfekter Schönheit erstaunt: Zeitgenössische, gute Produktionen von kundiger und sensibler Hand wie Ben Kwellers Changing Horses können einem in Verbindung mit dem Kleos SL in hochwertigem Arbeitsumfeld Tränen der Freude in die Augen treiben, aber auch „guter alter Rock ’n’ Roll“ mit allen Reglern am rechten Anschlag macht ohne Einschränkungen Spaß, solange die Quelle weitgehend unkomprimiert ist.
Wir meinen
Filigranes Low-Output-System von Meisterhand mit ungewöhnlich hoher Transparenz.
Info
Lyra Kleos SL
Funktionsprinzip: Moving-Coil-Tonabnehmer
Nadelträger: Boron
Nadelschliff: Line Contact
Ausgangsspannung: 0,25 mV (5 cm/sec)
Nadelnachgiebigkeit: 12 µm/mN
Frequenzbereich: 10–50 000 Hz
Kanaltrennung: besser als 35 dB bei 1 kHz
Empfohlene Abschlussimpedanz: > 86,6 Ω
Empfohlene Auflagekraft: 17–18 mN
Gewicht: 8,8 g
Garantiezeit: 2 Jahre
Preis: 3260 €
Kontakt
Fastaudio
Brählesgasse 21
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