Longtrack: Rush, 1976 – 2112
Zum Progrock gehören Tempowechsel, Klassik- und Jazzanklänge, umfangreiche Instrumentalteile und überraschende Instrumente. Weil das alles zusammen kaum in einen Drei-Minuten-Song passt, gibt es den Longtrack.
Nur Gitarre, Bass, Schlagzeug – das schränkt die Prog-Möglichkeiten doch erheblich ein. Zwar gibt es da noch Geddy Lees hohen Gesang, auch einige Synthesizer-Sounds, Wassergeräusche, eine Art Computerstimme am Ende. Aber es sind natürlich Alex Lifesons Gitarren, die hier dominieren und zeitweise kleine Gitarrengebirge bilden. Das 20-Minuten-Stück „2112“ des kanadischen Trios Rush wurde einmal als der Übergang von Hardrock zu Heavy Metal beschrieben – oder auch als „erste Progmetal-Suite der Geschichte“. Jedenfalls hat die Band 1976 aus ihrem kargen, nackten Sound das Beste gemacht. Denn auf musikalischer Ebene geht es in diesem Longtrack um den Konflikt zwischen Heavy-Gitarre und sanfter Solo-Gitarre.
Es ist eine Science-Fiction-Story. Die Heavy-Gitarre steht für ein diktatorisches Regime, eine Art Sternenföderation, und die sanfte Gitarre für einen einzelnen Bürger, der zufällig ein altes Instrument findet und so die in Vergessenheit geratene Kunst der Musik entdeckt. Das autoritäre Regime schmettert ihn jedoch ab: „Nichts Neues, eine Zeitvergeudung.“
Die Suite „2112“ besteht aus sieben kurzen Stücken, die im Durchschnitt unter drei Minuten lang sind. Die umfangreichste Nummer ist die instrumentale „Overture“ (4:32), eine abenteuerliche Abfolge von trockenen Rockriffs ohne richtige Melodie – eigentlich ziemlich mutig. Mehrere Gitarren klingen hier an, auch akustische, natürlich gibt es ein Gitarrensolo, starke Drum-Breaks, sogar ein Zitat aus Tschaikowskys Ouvertüre solennelle „1812“ (daher: „2112“). Der „Overture“ folgen fünf kurze Songs – sie bieten einen ständigen Wechsel zwischen rockigen und leisen Gitarrentönen, zwischen aggressivem und weichem Gesang. Refrains wie „We are the priests“ oder „Listen to my music“ bleiben im Ohr hängen. Die Geschichte der fünf Songs ist klar: Das Regime präsentiert sich (1), das Individuum entdeckt die Gitarre (2), Konflikt zwischen Regime und Individuum (3), Wunschtraum von einem Musikplaneten (4), Suizid des Individuums (5). Das „Grand Finale“ am Ende ist wieder instrumental.
Als Neil Peart, der Drummer der Band, die Story und die Songtexte schrieb, inspirierte ihn dabei der Roman Anthem der einst populären Autorin Ayn Rand. Ähnlich wie George Orwells 1984 entwirft dieses Buch die Dystopie einer kommunistischen Diktatur. Doch während Orwell ein erklärter Linker war, galt Rand als „reaktionär“ und „anti-links“. In den aufgeregten 1970er Jahren führte das bei der Rezeption von „2112“ zu verschiedenen Missverständnissen. Die einen unterstellten den Musikern von Rush eine „rechte“ Gesinnung, die anderen verdächtigten sie dagegen, mit dem totalitären Regime zu sympathisieren. Beide Vorwürfe sind Unsinn – „2112“ nimmt Partei für die Gitarre, die Musik, die Freiheit, die Emotion, sonst nichts. “See how it sings like a sad heart / And joyously screams out its pain / Sounds that build high like a mountain / Or notes that fall gently, like rain.”
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