Kansas – Leftoverture, 1976
Zum Progrock gehören Tempowechsel, Klassik- und Jazzanklänge, umfangreiche Instrumentalteile und überraschende Instrumente. Weil das alles zusammen kaum in einen Drei-Minuten-Song passt, gibt es den Longtrack. Dieses Mal Kansas – Leftoverture.
In England war die Party 1976 eigentlich schon vorbei. Die große Welle der klassischen Rockmusik versickerte in kleinen Scharmützeln. Peter Gabriel hatte Genesis schon verlassen, Rick Wakeman hatte bei Yes gekündigt, Ritchie Blackmore ließ seine Deep Purple im Stich, David Byron flog bei Uriah Heep raus. Vorsichtshalber legten Emerson, Lake und Palmer erst einmal eine Generalpause ein und zogen dann ihr jeweils eigenes Ding durch (Works). Auch die Musiker von Yes machten lieber Soloalben. Der Todesstoß für die Szene kam am Ende von der Plattenindustrie selbst. Von den fetten Jahren verwöhnt, schielten die Rock-Produzenten und -Manager auf die steigenden Verkaufszahlen von Disco, Punk und New Wave. Man legte den Rockbands nahe, ihren Stil „anzupassen“. Verträge wurden gekündigt, Bands lösten sich auf oder verloren sich im stilistischen Nirgendwo. Die letzten Standhaften organisierten eigene Festivals unter dem Motto: „Das ist die Musik, von der die Plattenindustrie nicht möchte, dass ihr sie zu hören bekommt!“
In den USA gab es damals kaum Bands mit vergleichbaren Artrock-Ambitionen. In der Heimat von Blues, Rock’n’Roll und Soul gedieh das künstlerisch Anspruchsvolle schlecht. Amerikas bekannteste „progressive“ Rockband der 70er Jahre waren Kansas. Die hatten ihren Durchbruch aber erst 1976 – mit dem Album Leftoverture und dem Hitsong „Carry On Wayward Son“. Dem Sextett aus Topeka (Kansas) gelang damals das Kunststück, komplexe Rockmusik zu schaffen, ohne darüber die „Street Credibility“ zu verlieren. Neben dem Einfluss von Genesis, Yes und ELP hörte man bei ihnen immer auch die Kraft des bodenständigen Boogie-Rock. Ihr viertes Album, eben Leftoverture, probten sie unterm Stress eines dichten Konzertkalenders, der ihrer Song-Kreativität ziemlich zusetzte. Steve Walsh, der Hauptkeyboarder, erlebte eine Schreibblockade. Kerry Livgren, der Leadgitarrist, lief dagegen unterm Druck zu Hochform auf. „Es war, als setzte mir jemand eine Pistole an den Kopf.“
Schließlich blieben sogar ein paar Einfälle von ihm übrig – „bits and pieces“, „leftovers“. Die Band hatte die wilde Idee, sie mit vereintem Input zu einem Longtrack zusammenzuleimen, einer kleinen Prog-Suite, die sie „Leftoverture“ nannte. Am Ende gefiel ihnen der Name so gut, dass er zum Albumtitel wurde – die Suite wurde umbenannt in Magnum Opus (8:27). Anfang und Schluss macht ein kleines hymnisches Thema, zunächst ganz sanft-mysteriös gespielt mit Pauke und Synthesizer. Nach kurzen Soli von E-Bass (!), Vibrafon (!) und E-Gitarre kommt der kleine Vokalteil namens „Howling At The Moon“. Danach (2:46) springt das Stück aber in ein halsbrecherisches Uptempo: Ein Gewittersturm der Riffs und Rhythmen setzt ein, die Instrumente jagen einander in schnellen Wechseln: verschiedene Keyboards, Gitarren, Geigen (vier Melodiespieler in der Band!), es gibt Phrasenbrüche, Solo-Breaks, ungerade Takte, kompakte Frickeleien, alles in hoher Geschwindigkeit. Zwei der Riffs (bei 3:46 und 4:42) erinnern übrigens stark an ELP. Dann beruhigt sich das Ganze (5:08) – ein sanftes Klangbild aus Vibrafon, Gitarre, Keyboards. Das Tempo beschleunigt noch einmal graduell, die Gitarre hat ein kurzes, schmutziges Solo (6:25 bis 6:42), und über sperrige Metren geht es zurück zum Hymnenthema (7:53). Und all das, während in England die „progressive“ Party eigentlich schon vorbei ist.
Kansas – Leftoverture gibt es hier bei jpc.