Gentle Giant, 1970 – Nothing At All
Unter den progressiven Rockbands der frühen 1970er Jahre hatten Gentle Giant mit Abstand die differenzierteste und vielfältigste Ästhetik.
Die fünf bis sechs Musiker waren Multi-Instrumentalisten, ihr Bühnenaufbau ähnelte dem eines Sinfonieorchesters. In ihren Stücken verbanden sie kraftvolle Gitarrenriffs mit kammermusikalischen Delikatessen, jazzige Improvisationen mit Renaissance-Klängen. Motive wurden gerne kontrapunktisch geschichtet, die Taktarten wechselten oft mitten im Stück. Für den Jazzmusiker John Wolf Brennan waren Gentle Giant „die genialste aller Progrock-Gruppen“. Selbst die Frankfurter Allgemeine Zeitung, sonst nicht für Hymnen auf Rockmusiker bekannt, attestierte den virtuosen Engländern einst „ein hochkünstlerisches Geschick“.
Weil die Ereignisdichte ihrer Musik so groß ist, gehen die Stücke bei Gentle Giant selten in die Länge. „Nothing At All“ vom Debütalbum Gentle Giant (1970) ist mit 9:03 Minuten die umfangreichste Nummer, die sie im Studio aufgenommen haben. Das Stück hat – wie bei dieser Band üblich – ganz verschiedene Facetten: Es beginnt als sanfte, akustische Ballade, wird ein druckvoller Hardrock-Song, mutiert zu einer Klassik/Free-Collage und ist schließlich wieder Ballade. Aber der Reihe nach!
Zwei akustische Gitarren machen den Anfang. Der weiche, hohe, zweistimmige Gesang („Now she sits by the riverside“) gehört zu den schönsten Melodien, die man im Progrock der Siebziger finden kann. Ein Refrain („She sees lovers pass“), die zweite Strophe („Now the wind seems so cold“) und noch einmal der Refrain schließen sich an, nur unterbrochen von einem kleinen Instrumentalmotiv. Der Song scheint eine Idylle zu beschwören – eine junge Frau am Ufer eines Flusses. Aber wir ahnen schon: Die Frau leidet.
Die Begleitung der Ballade wird allmählich härter, nach dem zweiten Refrain meldet sich die E-Gitarre mit einem rockigen Riff und übernimmt dann lautstark das Kommando (2:38). Kurz beruhigt sich das Stück noch einmal, eine kleine Synthesizer-Melodie kommt daher, wie leichthin geflötet oder gepfiffen, die akustischen Gitarren und das elektrische Rockriff scheinen miteinander zu kämpfen. Dann aber setzt sich der Rockpart endlich durch (3:16), und Derek Shulman wird zur harten Rockröhre („What could she do if she saw him now“). Spätestens hier verstehen wir: Eine Liebesbeziehung ging schmerzvoll zu Ende. Überm Rockriff startet die E-Gitarre ein engagiertes Solo (3:54).
Danach beginnt der eher psychedelische Teil (4:17). Zum enorm spannenden, elektronisch verzerrten Schlagzeugsolo kommt irgendwann das Klavier (5:48) mit Liszts Liebestraum Nr. 3, der sich bald in improvisierten Piano-Freejazz verwandelt (6:20). Verzerrtes Schlagzeug und freies Klavier – eine wilde Collage, Gefühlswirren, Leid, Verzweiflung. Der Schluss dann (7:47) klingt wie der Anfang, doch die scheinbare Idylle hat sich als Schmerz und Resignation entpuppt. Wir machen uns Sorgen um die junge Frau am Flussufer.
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