Eine 300B, die nicht langweilt.
Zu 300Bs ist bereits alles gesagt worden. Alles. Oder? In Magazinen, in Blogs und Foren und in vielen, vielen Do-it-yourself- Veröffentlichungen. Seltsamerweise erscheinen gefühltermaßen dennoch wöchentlich neue Verstärker mit dieser Triode, als ob man das Thema immer noch einmal anders interpretieren könnte. Ich glaube, dass – außer mit der Bestückung von Wald-und-Wiesen- Designs (Push-Pull-AB-EL34- und 6550-Amps, gähn) – mittlerweile keine Röhre dermaßen oft verbaut wird wie die 300B. Dass die vielen Konstrukte überhaupt noch wahrgenommen werden, liegt meistens an der Optik oder schlicht am Marketing. Technisch sind sie so austauschbar wie T-Shirts, an denen höchstens noch der Aufdruck interessant ist („Ich bin nicht tot, ich riech nur streng“). Das Thema ist komplett totgeritten. Mausetot. Selbst für echte Fans. So viel steht fest. Für unsereinen bleibt also nur eine Frage zu stellen: Gibt es noch Lichtblicke?Gucken wir schnell mal ein wenig in die Geschichte. Die 91A von Western Electric war der Auslöser für den ganzen Hype, der sehr früh in Japan, danach in Europa und ausgerechnet zuletzt in den USA ankam (auch wenn die US-Trioden-Fangemeinde uns heute wortreich weismachen will, es schon immer gewusst zu haben). Am Klang jener Ur-300B und an einiger recht präziser Nachbauten entzündete sich die 300B-Story, aus einem mehr oder weniger profanen Kino-Verstärker wurde ein Luxus-HiFi-Gerät, das selten an mehr, aber häufig im Teamwork mit weniger passenden Lautsprechern in den Kultstatus erhoben wurde.
Dem Kenner der Materie fällt dabei auf, dass praktisch kein „moderner“ 300B-Verstärker dem alten Vorbild schaltungstechnisch folgt. Das Western-Electric-Design benutzte zwei 310A-Pentoden in der Eingangs- und Treiberstufe, die Eingangsempfindlichkeit durch die beiden Pentodenstufen war damals praxisgerecht, für heutige Verhältnisse aber viel zu hoch. Später für HiFi-Zwecke verwendete WE-Originale wurden entsprechend modifiziert, indem man die erste Stufe schlicht stilllegte. Den unnachahmlichen Klang des Originals prägte insbesondere das aus dem Teamwork zwischen Pentode und Triode entstehende Klirrspektrum. Und genau das ist der entscheidende Punkt. Von wie gesagt ganz wenigen Ausnahmen einmal abgesehen, werden in 300B-Designs heute eingangsseitig Trioden verwendet, das Resultat ist bisweilen sehr beeindruckend, reicht aber an das alte Vorbild nicht ganz heran.
Während der Selbstbauer noch die Freiheit genießt, auch Röhren-Raritäten (sofern erhältlich) in seinen Basteleien einzusetzen, sieht es auf der „offiziellen“ Seite – in Europa – ganz anders aus. Hier dürfen nur Röhren verwendet werden, denen der Hersteller RoHs-Kompatibilität bescheinigt. Und die Auswahl neu gefertigter, „erlaubter“ Pentoden ist höchst überschaubar, nicht zuletzt deshalb, weil die Röhrenfabriken vor allem modische, allseits nachgefragte Trioden produzieren. Ein exakter Nachbau der WE310A stand bis dato überhaupt nicht zur Verfügung, womit die Serienfertigung eines 310A/300B-Verstärkers praktisch ausgeschlossen war. Doch das hat sich nun geändert (wir berichteten).
Der tiefere Grund für die Anstrengungen des chinesischen Herstellers Line Magnetic, im Teamwork mit einem großen Röhrenproduzenten wieder eine 310A zu bauen, ist zunächst aber nicht der Röhre selber, sondern vielmehr einer Überzeugung zuzuschreiben. Nämlich der, dass letztlich nur das Ensemble 310A/300B – und zwar mit absolut vorbildgetreuen Röhren – jenen magischen Klang entfaltet, den man der 300B nachsagt. Das war die Geburtsstunde des Line-Magnetic-Vollverstärkers LM-210 IA. Und jetzt fragen Sie mich bitte nicht, was die eher kryptische Modellbezeichnung mit der ganzen Sache zu tun hat. Ein paar Geheimnisse wollen wir dem rührigen chinesischen Vollsortimenter noch lassen.
Auch in puncto Optik folgt der Line- Magnetic-Vollverstärker sicherlich nicht dem Mainstream. Rechnet man den großen Lochblech-Deckel hinzu, entspricht der großvolumige, schön „retromäßig“ Hammerschlaglackierte 30-Kilogramm-Amp fast einem Würfel. Als erster Hingucker dient ein beleuchtetes Zeigerinstrument, eine logarithmische Leistungsanzeige, deren Qualität weit über die der üblichen Schätzeisen hinausreicht. Mit Hilfe gleich zweier Zeiger offenbart die Skala, wie wenig Leistung von den insgesamt acht Watt der 300B tatsächlich benötigt wird; an meiner 96-dB-Rondo von A23 schlenkert die zugegeben träge gestaltete Anzeige praktisch nie über die Ein-Watt-Marke hinaus! Wer das nicht so genau wissen will, kann die Beleuchtung des großen Instruments auch abschalten, übrigens genauso wie eine äußerst mild ausgelegte Gegenkopplung. Bei mir stand dieser Schalter hartnäckig auf „Off “, allerdings ist die Gegenkopplung kein Fehler bei manchem Lautsprecher. Ein weiterer Kippschalter nimmt auf Wunsch auch noch eine 12AX7(ECC83)- Eingangsstufe aus dem Signalweg und öffnet ohne Pegelregler den direkten Weg zur 310A/300B-Combo. Die Eingangsempfindlichkeit des so zur reinen Endstufe mutierten SE-Vollverstärkers liegt dann laut Hersteller bei einem Volt. Inklusive der 12AX7 muss man dagegen mit rund 200 Millivolt (0,2 V) rechnen und hat – vom Eingang abgepuffert – auch den Pegelregler nebst Dreifach-Eingangswahlschalter zur Verfügung. Eine durchweg vernünftige, weil eben nicht übertrieben puristische Auslegung, zu der auch drei Hochpegel-Eingänge zählen.
Das voluminöse Chassis enthält auch gleich den Netztrafo und beide Ausgangsübertrager – der Grund, warum obenauf ausschließlich Röhren zu sehen sind; unübersehbar die beiden serienmäßigen Gleichrichter vom Typ 5U4G, die kanalgetrennt arbeiten. Als Krönung könnten hier auch zwei WE274A in den Fassungen stecken, dieser im Ur- Verstärker eingesetzte Gleichrichter zählt freilich zu den kaum noch mit Geld bezahlbaren Western-Electric- Antiquitäten. Allerdings würde ich mich nicht wundern, wenn Line Magnetic demnächst mit einer Replik aufwartet (die bis dato gesichteten Nachbauten der 274A fand ich nicht sooo berauschend). Mit den beiden serienmäßig mitgelieferten Gleichrichterröhren vermochte ich mich allerdings auch nicht so recht anfreunden, sie gaben ein vernehmliches Surren von sich, und ich habe sie schnell gegen etwas „moderner“ gebaute 5U4G-Typen ausgetauscht. Um den Röhrensatz zu schonen, wurde der LM-210 IA eine Automatik für sanftes Hochfahren mitgegeben, eine anfangs blinkende LED am Rand des Pegelreglers verkündet letztlich die Betriebsbereitschaft. Dabei ist aus dem Lautsprecher kein Knacks zu hören, eine feine Sache insbesondere bei wirkungsgradstarken Chassis, naturgemäß die Domäne solcher vergleichsweise schwachbrüstiger Eintakter.
Im Inneren des Vollverstärkers geht es sozusagen 3D-mäßig zu: freie Verdrahtung, mit der die gesamte Chassis-Höhe ausgenutzt wird, plus einige kleine Hilfsplatinen, dem Zweck angemessener Bauteileinsatz sowie die üblichen chinesischen Röhrenfassungen aus Porzellan. Akzeptiert. Zumal es an dem grundsoliden, schweren Chassis nichts auszusetzen gibt, auch die mitgelieferten 310A- und 300B-Gläser gehen qualitativ völlig in Ordnung. Zeitnah landete dann noch ein Extra-Paket im Zoll, das die neuen, bei PSVANE gebauten WE300B-Repliken enthielt; dieses schon länger angekündigte gemeinsame Röhrenprojekt von Line Magnetic und der inzwischen wohl feinsten chinesischen Röhrenfabrik beschert uns nun eine extrem vielversprechende Kopie der WERöhre, übrigens standesgemäß verpackt, nummeriert und selektiert. Anstatt wieder einmal alles anders und besser machen zu wollen, entschloss man sich vernünftigerweise zu einem möglichst exakten Nachbau, dessen Standfestigkeit allerdings erst noch zu beweisen ist. Die dafür nötigen Betriebsstunden werde ich den Kerlchen aber noch auf den Buckel, sorry, auf die Anoden packen und dann ausführlicher berichten. Schlaflose Nächte braucht man sich wegen diesem Luxusthema aber nicht gleich zu machen; die serienmäßig mitgelieferten 300Bs mit „Line-Magnetic- Audio“-Aufdruck hören sich sehr gut an, wenn es auch keine 1:1-Kopien des Originals sind. Was man insbesondere von oben betrachtet an den Aufhängungen des Heizfadens sieht: Die „Galgen“-Konstruktion der WE-Röhre und der PSVANE ist unverwechselbar, doch die tieferen Geheimnisse solcher Trioden stecken im Material und den bis auf das letzte Quäntchen optimierten Herstellverfahren.
Dass ich es dennoch nicht lassen konnte, die LM-210 IA auch einmal mit einem betagten Original-Röhrensatz zu bestücken, ist vielleicht nicht so sprichwörtlich glasklar, wie man sich das vielleicht vorstellt. Würde ich es riskieren, ein so wertvolles Röhren-Ensemble in irgendeine schwindlige Kiste zu stecken? Sicher nicht. Doch bei der Line Magnetic kamen keinerlei Zweifel auf, der Amp macht auf mich einen technisch soliden Eindruck und quetscht auch nicht das letzte Quäntchen Leistung aus den Endröhren. Das klangliche Resultat ist übrigens durchaus dazu geeignet, den astronomischen Hype um Röhren- Raritäten wieder auf den harten Boden der Realität zurückzuwerfen (vielleicht mit einem kleinen Stück Teppich dazwischen). Das bestätigt meine Meinung, dass man im Alltag ohne Abstriche mit gut gemachten Röhren-Nachbauten leben kann. Sammlerstücke runterzubrennen ist reiner Luxus für verregnete Feiertage, stilvoll verbunden mit angemessenen Getränken und adäquaten Gesprächspartnern …
Aber zurück zum eigentlichen Thema, dessen Anschlussfeld die heutzutage wohl unvermeidlichen Monster-Polklemmen aufweist, sachgerecht aufgeteilt in Vier-, Acht- und 16-Ohm-Sektion (das Teamwork mit meiner nun „zweiwegigen“ Rondo macht mich neuerdings zum Acht-Ohm-User.) Ebenso prächtig fallen die hartvergoldeten, deshalb matt aussehenden Cinchbuchsen aus, allerdings sind diese schönen Dinger modisch, will heißen so dick geraten, dass man die Stecker zwar drauf, aber nur schwer wieder runter bekommt. Das gefällt wahrscheinlichen allen HiFi-Fans, nur meiner einer hat dazu eine andere Meinung. Geteilte Ansichten gibt es auch zu einer ganz anderen Sache, die sich auf der Oberseite des Chassis manifestiert: ein kleines Löchlein mit einem Poti darunter, dazu der Aufdruck „Hum Balancer“. Eingeweihte wissen jetzt sofort: Wechselstromheizung an der 300B. Die einen schreien jetzt Bravo, die anderen legen sofort die Stirn in Sorgenfalten. Tja. Wechselstromheizung. Sozusagen die reine Lehre aus der Triodenbibel, das Credo härtester Freaks, die den dadurch unvermeidlich verursachten winzigen Restbrumm mit dem seligen Lächeln von Radiosammlern quittieren, die einen 1935er Telefunken einschalten. Nicht wegzuleugnen, solche Trioden waren einst für Wechselstromheizung gedacht und gemacht. Tatsache auch, es klingt so tatsächlich einen Hauch besser. Tatsache weiterhin, der Preis ist ein kleiner, nicht lautstärkeabhängiger Restbrumm im Lautsprecher, den man frohgemut ignorieren oder fortan zum Nervenkrieg erklären kann. Mich wundert nicht, dass die auf Klang und Originalität bedachten Macher von Line Magnetic konsequent an der antiquierten Methodik festhalten, anstatt der Triode eine der üblichen Gleichspannungsheizungen zu spendieren. Das Ganze ist eine Glaubensfrage und über Glaube lässt sich bekanntlich nicht streiten. Ich als Berichterstatter habe jetzt die Wahl, diese Geschichte zum „Knackpunkt“zu erklären (oh Gott, der Geräuschspannungsabstand!) oder mich entspannt zurückzulehnen und zu erklären, dass ich an meinem Hörplatz mit meinem Lautsprecher davon nichts mehr wahrnehme. Und wissen Sie was? Genauso mache ich das jetzt. Signal-to-Noise-Fanatiker (zu denen gehöre ich auch fallweise) sollen sich doch einen D-Verstärker kaufen. Über deren merkwürdiges Rauschverhalten sieht die ach so begeisterte Hightech-Fraktion ja auch gerne geflissentlich hinweg …
Aber jetzt wollen Sie endlich wissen, ob das Ding klingt. Das tut es, und zwar anders. Von allzu runden, gerne mal wie eingecremt wirkenden Tönchen verabschieden wir uns jetzt ganz schnell. Das ist, Ohren auf, kein anschmiegsamer Begleiter mit leicht aufgedunsenem Wohlstandsbäuchlein und rosigem Gesicht, sondern ein sogar eher schlanker, superschneller und glasklar agierender Verstärker, dessen Gnade gegenüber harscher Software sichtbare Grenzen hat. Genau hier scheidet sich jetzt die Spreu vom Weizen, genau hier kriegt der alte Trioden-Mythos genau das, was er verdient hat. Er landet auf dem Müllhaufen der Verstärkergeschichte. Eine gute 300B hat Punch, mit geeigneten Lautsprechern staubtrockenen Bass, und sie läuft weit nach oben raus, anstatt verrundend in Schönheit und Langweiligkeit zu sterben. Bissigkeit, wo nötig, und Transparenz bis zum imaginären Horizont sind keine Stärke neuzeitlicher Sandkisten, sondern waren und sind schon immer auch die Domäne richtig gemachter Triodenverstärker. Die einst völlig zu Recht als Faszinosum galten, als die Transistoren zwar schon sehr, sehr gut sein konnten, aber Magie, Emotion, eine riesige Farbenpalette und erdiger, nein, geerdeter Klang noch nicht zum Repertoire zählten.
Höchste Zeit, Zöpfe abzuschneiden, mit Vorurteilen aufzuräumen und vielleicht auch die eine oder andere Enttäuschung zu produzieren. Wachsweiche, ultrafreundliche SETriodenverstärker sind falsch und waren es schon immer. Oder solcher Klang wurde – und wird, allzu häufig – im „Teamwork“ mit völlig ungeeigneten Lautsprechern produziert, an denen die Triode ihre stupende Dynamik einbüßt, nur mehr hechelt und kaum mehr Hochtonspektrum bis zum Schallwandler durchbringt. Ehrlich gesagt muss man diesbezüglich immer noch 80 Prozent des aktuellen Lautsprecherangebots abhaken; genau hier liegt die große Schwäche solcher Verstärker. Dafür sind sie ungeeignet – eine bittere Erkenntnis, zu der man sich erst einmal durchringen muss. Stimmt allerdings diese Seite der Medaille, geht die Sonne auf. Und zwar ungeschönt, ganz ohne Filter, aber keineswegs ohne Wärme. Falls Sie auch einmal die seltene Chance haben, eine richtig gemachte AD1 oder 45 zu hören, geschweige denn eine RE604: kein überflüssiger Klang, sondern vielmehr – und weit besser – die Reduktion auf das musikalisch Wesentliche. Davon aber mehr als genug. Die Line Magnetic 210 IA kann das genauso, wenn man ihr im richtigen Umfeld die Chance gibt, sich zu entfalten. Müsste ich den Vergleich zu vorbildlichen – und alles andere als langweiligen – 300Bs ziehen, etwa zu Ken Shindos Monoblöcken oder den 300B von Reimyo, dann steht der Line Magnetic Vollverstärker fürs Geld unglaublich gut da.