Album-Doppel: Lee Morgan Sidewinder – Blue Note Plays Gershwin
Die Zweifarben-Optik von Blue Note
Ein Archetyp der Jazzgeschichte: der sensationelle junge Trompeter, der strahlende Held, der viel zu früh ein tragisches Ende findet. Berühmte Beispiele waren Bubber Miley, Bix Beiderbecke, Bunny Berigan, Sonny Berman, Fats Navarro, Clifford Brown, Joe Gordon oder Booker Little. Und natürlich: Lee Morgan. Mit 18 Jahren machte Morgan sein Debütalbum und schien bereits der König des modernen Trompetenspiels zu sein. 1958 erschien Candy, das reifste Balladenalbum, das jemals ein 19-Jähriger aufgenommen hat. Drogenbedingt bremste seine Solokarriere dann etwas herunter, dafür spielte er bei Art Blakey regelmäßig alle Kollegen an die Wand. 1963 hatte Lee Morgan sein Comeback als Bandleader bei Blue Note – es war ein Relaunch von 0 auf 100. Das Album The Sidewinder wurde nämlich der größte Verkaufserfolg, den die Firma bis dahin erlebt hatte. In vielerlei Hinsicht: ein Schicksals-, Scheitel- und Wendepunkt.
Schuld daran war das Titelstück, genauer gesagt: sein Rhythmus. Man kann ihn als Swing hören, man kann ihn auch als Latin auffassen, aber die meisten verstanden ihn als tanzbaren, funky Achtachtel-Groove. „The Sidewinder“ markiert den Übergang vom gospeligen Hardbop in den souligen Hardbop. Dabei ist das Stück einfach nur ein Blues, gedehnt auf 24 Takte, mit ein paar neckischen Breaks. Es wurde ausgekoppelt, auf die zwei Seiten einer 45-rpm-Single gepresst und eroberte die Jukebox. Das Album stieg deshalb 1964 bis auf Platz 25 der amerikanischen Pop-Charts. Für das kleine, unabhängige Jazzlabel Blue Note war danach nichts mehr so wie vorher – jetzt erwarteten die Vertriebe und Händler weitere Hits. Das gemütliche Plattengeschäft entwickelte plötzlich eine riskante Logistik. Der Produzent kapitulierte vor diesem Erfolg und verkaufte schon ein Jahr später an einen Popmusik-Konzern. Sein Koproduzent machte dort noch eine Weile weiter und starb 1971 am Stress. Kurz danach wurde Lee Morgan, der strahlende Trompetenheld, von seiner Ehefrau auf offener Straße erschossen. Er war 33 Jahre alt.
Die Plattenhülle von 1964 ist natürlich ein Blue-Note-Klassiker. Oberes Drittel: das Musikerfoto (von Francis Wolff) – schwarzweiß und zu einem schmalen Querstreifen geschnitten. Mittleres Drittel: die Lettern – schlagzeilenartig, in Versalien, schwarz und rot. Unteres Drittel: eine leere weiße Fläche. Reid Miles hieß der Grafiker, der in den 1950ern diese plakative Zweifarben-Optik von Blue Note entwickelt hat – Vierfarbdruck war damals teuer. Er machte danach noch einige recht ähnliche Cover – etwa für Stanley Turrentine (Hustlin, 1964), Bobby Hutcherson (Stick-Up, 1966), Cecil Taylor (Conquistador, 1966) oder McCoy Tyner (The Real McCoy, 1967). The Sidewinder aber blieb immer etwas Besonderes: das Antlitz des Erfolgs, das Antlitz des Schicksals. Eine Hülle mit Wiedererkennungswert.
Kein Wunder also, dass Blue Note das inzwischen durch diverse Plattenkonzerne gegangene Cover später als „Blaupause“ für eine ganze CD-Serie gewählt hat. Elf Compilations erschienen zwischen 2004 und 2006 im Sidewinder-Design unter dem Motto Blue Note Plays … – Tributalben an große Künstler, zusammengestellt aus „Coverversionen“ im Blue-Note-Katalog. Die fantasievolle Auswahl der elf tributmäßig Geehrten reicht von Cole Porter bis Sting, von Gershwin bis Prince. Das gibt auch ein wenig das Alter und die Stilistik der einzelnen Compilations vor: Die Prince- und Sting-Verjazzungen stammen überwiegend aus den 1990er Jahren, die Stevie-Wonder-, Burt-Bacharach- und Ray-Charles-Bearbeitungen haben ihren Schwerpunkt in den 1970ern. Die letzten Veröffentlichungen (2006) galten ausnahmslos den guten alten Jazz-Standards – hier dominiert der „klassische“ Blue-Note-Sound der späten 1950er.
So wie auf Blue Note Plays Gershwin. Statt eines Musikerfotos erkennen wir auf dem Cover im Londoner Nebel den Palace of Westminster – Parlament und Big Ben. Im Vordergrund: eine Straßenlaterne auf der Westminster Bridge. Gershwin-Kenner denken da natürlich sofort an „A Foggy Day (In London Town)“, den Gershwin-Song von 1937. Der Altsaxofonist Lou Donaldson bläst ihn hier recht schnell, begleitet von elektrischer Orgel, elektrischer Gitarre und Schlagzeug – eine Aufnahme von 1961. Überhaupt gibt es auf dieser Compilation ziemlich viel Orgel und Gitarre zu hören: Da war wohl ein Elektro-Fan am Werk. Bei Lou Donaldson spielt „Baby Face“ Willette die Orgel, auf anderen Stücken Freddie Roach oder Jimmy Smith. Die Gitarristen Grant Green und Kenny Burrell sind gleich zweimal vertreten, jeweils als Bandleader und als Sideman. Burrells Soloversion von „But Not For Me“ (1956) bildet das Zentrum des Albums, aber er ist auch schon im ersten Stück dabei: „’S Wonderful“ heißt es und schlägt eine raffinierte Brücke zurück zu Lee Morgan, dem Trompetenhelden. Denn der 19-Jährige war der geschmeidige Bläsersolist bei dieser Studioaufnahme von 1957, die lange Zeit unveröffentlicht blieb und erst von den jazzbegeisterten Japanern in den 1980ern erlöst („released“) wurde. Hier ist er noch einmal: der König des modernen Trompetenspiels, der jugendliche Held der Ballade, ein tragisch geendeter Zauberkünstler.
Lee Morgan: The Sidewinder (Blue Note BST 84175)
Blue Note Plays Gershwin (Blue Note 946-3-49291-27)