Klangkino: Der Puls der Extase – Minimal Music im Film
Die Minimal Music hat unsere Klang- und Wahrnehmungswelt gründlich verändert – auch im Kino. Minimal Music als Filmmusik: Philip Glass, Terry Riley und Michael Nyman haben es vorgemacht
So richtig ernst genommen hat man die Minimal Music lange nicht. Der Klassikbetrieb liebte es vielmehr, sich über die freiwillige Selbstbeschränkung der Minimalisten lustig zu machen. Ihre kleinen musikalischen Motive wirkten kindisch, ihre ständigen Repetitionen primitiv, ihre schlichte Harmonik reaktionär, die Kanontechniken plump, die stehenden Akkorde langweilig. Der Klassikbetrieb gähnte. Doch die Selbstbeschränkung, der Minimalismus, war nur die eine Seite der Minimal Music. Die andere Seite war eine Energie, die sie aus ihren Inspirationsquellen zapfte. Die Energie, die auch in afrikanischen Trommeln steckt, in indischen Ragas, indonesischen Gamelan-Orchestern, Renaissanceklängen und Modal-Improvisationen. Die Energie von Trance und Puls, Spiritualität und Meditation. „Musik sollte alle in Hörweite in einen Zustand der Ekstase versetzen“, forderte der Minimalist Steve Reich einmal. Diese minimalistische Energie pulst und pocht heute überall. Wir spürten sie in den ersten Sequencern und Loop-Maschinen. Wir hörten sie im Aufkommen von World Music und Ethno-Pop. Wir fühlten ihre Vibrationen im Acid, im Techno, in der Trance-Musik. Wir ahnten sie in New-Age- und Meditationsklängen. Die Minimal Music und ihre Folgen haben uns alle verändert.
Ein erster großer Impuls kam 1983 durch den Film Koyaanisqatsi von Godfrey Reggio. Uralte Indianerweisheiten (Naturbilder) gegen den Irrsinn der Wachstumsgesellschaft (Stadtszenen): Das traf damals genau den grün-alternativen Nerv der Zeit, das neue, ökologische, globale Denken. Philip Glass’ Soundtrack spielt dabei die Hauptrolle, denn die Bilder, Szenen, Schnitte, Tempi des dialogfreien Films orientieren sich – oft beschleunigt im Zeitraffer – an der Entwicklung der Musik. Es war Glass’ erste Filmarbeit (mehr als 30 weitere folgten bis heute) und festigte seine Rolle als „Popularisierer“ der minimalistischen Klangwelt. Orchestrale Farbigkeit, schlichte Zirkelharmonik, pathetische Steigerungen, rhythmischer Puls, eingängige Repetition: So macht man Minimal Music zum Hit. Das Soundtrack-Album Koyaanisqatsi, auf LP-Länge gestaucht, enthält sechs Stücke, die bis heute nichts von ihrer Wirkung eingebüßt haben. Ob das vokale „Vessels“, das dunkle, bläsergetönte „Cloudscape“, das hochdramatische „Pruit Igoe“ oder das elektronisch pulsierende „The Grid“: Die Klangwelt von Koyaanisquatsi wurde zum Klassiker.
Nicht so berühmt wurden zwei Filmmusiken, die Terry Riley schon in den siebziger Jahren für europäische Produktionen lieferte: Lex Yeux Fermés & Lifespan. Die Filme – von Joël Santoni bzw. Alexander Whitelaw – sind düster-psychologischer Natur und weitgehend vergessen, obwohl in einem davon immerhin Klaus Kinski die Hauptrolle spielte. Minimal-Music-Pionier Riley, der damals traditionellen indischen Gesang studierte, war bei der Musikproduktion ganz von der Idee modalen Improvisierens erfüllt. Mit elektrischen Keyboards, Saxofon, Tabla, Multitrack, Verzerrern und Echogeräten bastelte er fantastische multiple Exkursionen über Pedaltönen, fesselnd und zeitlos, pendelnd zwischen Ost und West, Ambient und Jazz. Einen gewissen Ruhm erlangte der fast 20-minütige Trance-Trip „Happy Ending“ – pulsfrei, saxofongesättigt, intensiv. Das New-Age-artige „In The Summer“ verbindet elektronische Rhythmusmuster mit sphärischen Vokalklängen. „The Oldtimer“ erinnert sogar an eine swingende Drehorgel.
Europas Minimalist Nr. 1 ist der Engländer Michael Nyman, der – nebenbei bemerkt – den Begriff „Minimal Music“ erfunden hat. Berühmt wurde Nyman durch seine Musik für die exzentrischen Filme von Peter Greenaway, etwa Der Kontrakt des Zeichners oder Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber. Für Michael Nyman/Peter Greenaway – Film Music hat Nyman der Minimal Music eine ganz neue Inspirationsquelle erschlossen, nämlich die Musik der Barock- und Klassik-Epoche. Wenn er sich bei Harmoniefolgen aus Purcells King Arthur oder Motiven aus Mozarts Sinfonia concertante bedient, sie mit Pulsationen, Repetitionen, Zirkelgängen und schrillem Band-Sound verfremdet, dabei Festlichkeit und Absurdität verknüpft und das Ernsthafte dissonant und ziellos werden lässt, dann gewinnt seine Musik – nicht nur für Musikhistoriker – eine geradezu gespenstische Dimension. In „Angelfish Decay“ klingen Cembalo und hohe Geigen so bizarr, als wollten sie einen Can-Can oder Charleston rückwärts spielen. Im „Memorial“ eskaliert der Trauermarsch zum Saxofongeheul. Der „Wedding Tango“ hat alle Harmlosigkeit verloren. Da wird das Pochen der Minimal Music zum raffinierten Alptraum.