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Olivier Messiaen
Olivier Messiaen – Early Organ Works CD,SACD/Simax

Kathedralenklang – Mystische Abenteuer an der Orgel

Kathedralenklang – Mystische Abenteuer an der Orgel

 

Bei Orgelmusik denken wir in der Regel zuerst an Bach, Buxtehude, Pachelbel, die um 1700 die lutherischen Gemeinden erfreuten. Doch die Evangelischen haben die Orgelmusik nicht gepachtet

Um das Jahr 1300 bereits hat sich die Orgel in den Kirchen Europas als das führende Musikinstrument durchgesetzt. Die erste Großorgel der Welt, im Dom zu Halberstadt, wurde schon einhundert Jahre vor Luthers Geburt errichtet. Der jüngste Bach-Sohn, Johann Christian, konvertierte – zum Entsetzen seiner Familie – sogar zum katholischen Glauben, um am Dom von Mailand als Organist Karriere machen zu können. Auch das Zweite Vatikanische Konzil (1965) betonte noch einmal: „Die Pfeifenorgel soll in der lateinischen Kirche als traditionelles Musikinstrument in hohen Ehren gehalten werden; denn ihr Klang vermag den Glanz der kirchlichen Zeremonien wunderbar zu steigern und die Herzen mächtig zu Gott und zum Himmel emporzuheben.“

Katholisch hin oder her: Zu den größten Musikerlebnissen, die unser Planet bietet, gehören Orgelkonzerte in französischen Kathedralen, etwa in Notre-Dame de Paris. Der Komponist Louis Vierne hat dort über 30 Jahre lang als Titular-Organist gewirkt. Auch an anderen Pariser Kirchen waren große Orgelkomponisten tätig – in Sainte-Clotilde: César Franck, Gabriel Pierné, Charles Tournemire, Jean Langlais, in La Trinité: Alexandre Guilmant, Olivier Messiaen, in Saint-Sulpice: Charles-Marie Widor, Marcel Dupré, in Saint-Augustin: Eugène Gigout, in Saint Vincent de Paul: Léon Boellmann. Die registerreichen Hauptorgeln all dieser Pariser Kirchen gehen auf Aristide Cavaillé-Coll zurück, den französischen Silbermann des romantischen 19. Jahrhunderts.

Marcel Dupré
Marcel Dupré spielt Franck
CD/Philips

Pariser Orgelromantik – das ist eine Schule von ganz eigener Tradition und Strahlkraft – und einer ganz eigenen Frömmigkeit. Schon im Wort „Romantik“ steckt ja die Hinwendung zum Romanischen und Vor-Reformatorischen, zu Gotik und Gregorianik. Doch das Archaische mischt sich hier mit innovativer Klanglichkeit und raffinierter Moderne, mit weltstädtischem Flair und aufgeklärter Subjektivität. In diesen Kathedralenklängen spiegelt sich die Größe der Schöpfung nicht so abstrakt wie bei Bach. Vielmehr sucht die Musik – wild, farbenreich, dynamisch zerklüftet – die direkte, mystische Annäherung ans Göttliche. Emotionale Jenseitsvisionen, klingende Marienbilder, fantasievolle religiöse „Improvisationen“. Der Orgelklang selbst ist Anrufung, Gebet, Erscheinung oder Meditation über heilige Themen.

César Franck (1822–1890) zum Beispiel leistete seinen individuellen Gottesdienst direkt in die Orgel hinein (Prière, Offertoire). Sein Vermächtnis sind die Trois Chorals pour grand orgue aus seinem Todesjahr: genialisch-unberechenbare Orgelfantasien, hoch konzentriert, quasi sinfonisch. „Die Orgel ist mein Orchester“, soll Franck einmal gesagt haben. Auch die einleitende Pièce héroïque kommt wie ein spätromantischer Sinfoniesatz daher, übrigens ein Jahrmarkt-Stück für den Freizeitpark am Trocadéro. So emanzipiert war Francks Katholizismus, dass er auch das der Orgel zumutete. Marcel Dupré spielt Franck ist ein großes historisches Klangdokument, aufgenommen an der Orgel der Saint Thomas Church in New York, einer dieser von Wolkenkratzern überschatteten Kirchen an der Fifth Avenue.

Charles Tournemire
Charles Tournemire – Improvisations
CD/Dabringhaus & Grimm

Charles Tournemire (1870–1939) war da strenger. Er verstand alle Musik als Dienst an der lateinischen Liturgie, als inspirierte Ausdeutung heiliger Texte. Sein Hauptwerk nannte er L’Orgue Mystique – die mystische Orgel. In Tournemires Improvisations (Fantasien) über gregorianische Hymnen donnern die Sphären, reißen chromatische Abgründe auf, stapeln sich die Klangfarben zu schwankenden Türmen. Hier lernt man, wieder an Himmel und Hölle zu glauben. Die Aufnahme Improvisations (Dabringhaus & Grimm MDG 946 1514-6) kontrastiert diese Gewalttouren mit den archaischen Hymnen, die ihnen zugrunde liegen, gesungen von der Schola der Berliner Domkantorei. Aber Tournemires Modernität kennt auch impressionistischen Flitter, tänzelnde Klangstaubflocken, körperloses Orgelschwirren, etwa in seinen Dix Pièces im freien Stil. Ein göttliches Hörvergnügen.

Olivier Messiaen
Olivier Messiaen – Early Organ Works
CD,SACD/Simax

Olivier Messiaen (1908–1992) hat diese katholische Orgelmystik bis weit ins 20. Jahrhundert hineingetragen. Seine Early Organ Works (Simax PSC 1170) aus der Zeit um 1930 sind innovative Visionen des Heiligen: expressionistisch vielgestaltige, klangfarblich packende Einfühlungen in die Himmelfahrt Christi, das Abendmahl oder die ewige Glückseligkeit. So spannend modern wie hier ist Religion sonst selten. Das „Frohe Alleluja“ läuft Zickzack durch den Äther, der „Freudenausbruch einer Seele“ erschüttert das Weltenfundament, in der „Opfergabe“ vibrieren die feinsten Himmelssphären. Wären diese Licht- und Sternenklänge nicht dem Überirdischen zugewandt, müsste man sie für Science Fiction halten. Zum Weiterhören empfohlen: Messiaens Zyklus La Nativité du Seigneur von 1935. Passend zu Weihnachten.

 

 

 

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