Test: JMR Bliss Silver – La Mélomane
Eine französische Charmeoffensive
Jean-Claude Reynaud hält Spikes nicht per se für böse. An seiner Kompaktbox Bliss Silver und dem passenden Ständer Magic Stand mag er sie aber nicht sehen. – Wie bitte? Da lebt man als Audiophiler jahrelang im festen Glauben, es gäbe nichts, was sich nicht auf klangdienliche Weise auf Stahlspitzen aufbocken ließe, seien es Lautsprecher, die Elektronik, das HiFi-Mobiliar – und dann das: Einen „edgy sound“ hätten Spikes zur Folge, ja, sie bewirkten gar einen „lack of flesh“, betont Monsieur Reynaud. Also weg damit. Prompt ist die Freude groß beim Nutzer, der schon vor dem Öffnen der vier Pakete – zwei Boxen, zwei Ständer – Gabelschlüssel verschiedener Größen, Zange und Wasserwaage bereitgestellt und sich auf den üblichen minutenlangen Justage-Eiertanz eingestellt hatte. Auch das Verschieben im Raum auf der Suche nach der idealen Aufstellung wird später die reine Freude. Très sympa!
Reynaud also. Ich hatte Jean-Claude am Telefon, den Sohn des 2011 verstorbenen Jean-Marie Reynaud, dessen Initialen JMR den Firmennamen bilden. Bis 2012 war mir von JMR nur das Spitzenmodell der kompakten Zweiwegewandler namens Offrande ein Begriff. Wie peinlich. Denn tatsächlich werden am Firmenstandort in Barbezieux, rund 80 Kilometer nördlich von Bordeaux, schon seit 1967 Lautsprecher gebaut. Seit bald einem halben Jahrhundert!
Vor zwei Jahren fiel mir dann auf der High End in München die Standbox JMR Abscisse auf. Im schrillen Messetrubel gelang es dem eleganten Wandler, eine veritable akustische Wellnessoase zu erschaffen. Ein kaum hoch genug zu bewertendes Kunststück angesichts der bekannt widrigen Umstände. Allerdings auch keine Garantie, dass andere Modelle des Hauses gleichermaßen mit musikalischem Fingerspitzengefühl gesegnet sind.
Den Beweis muss nun die JMR Bliss Silver erbringen. Dem Namen nach handelt es sich dabei um die verfeinerte Version der „regulären“ Bliss, eines dem Äußeren nach zu urteilen unspektakulären Zweiwegewandlers mit konventioneller Bestückung und Bassreflexunterstützung.
So einfach, wie es scheint, ist es dann aber doch nicht.
Der Schlitz in der Front unterhalb des Tiefmitteltöners ist in Wahrheit die Atemöffnung einer Transmissionline (TML). Ungewöhnlich genug, zumal bei Kompaktboxen, denn der mit TML erreichbare Tiefgang hängt unmittelbar mit der Länge der Schallführung zusammen, was, da nun aufwändiger Labyrinthbau ansteht, die Komplexität des Bauplans massiv erhöht. Aber da ist noch mehr. Der mit viskoelastischem Material (auf Schaumstoff wird gänzlich verzichtet) gedämmte Schallweg im Inneren des MDF-Gehäuses führt durch vier Kammern, die, so erklärt es Reynaud, die rückwärtigen Schallanteile des Konuschassis einer Folge von Kompressionen und Dekompressionen unterziehen. Das klingt nicht mehr nach der reinen TML-Lehre, eher nach Helmholtz-Resonatoren, womöglich einem TML/Bassreflex-Hybrid? Jean-Claude Reynaud will sich dazu nicht äußern, und nein, ein Schnittmodell des Gehäuses gibt es nicht. Schade.
Die zwei Chassis, eine Seidenkalotte und ein Konus aus einem Materialmix von Papier, Carbon und einem Kunststoff namens Aquaplast, sind perfekt bündig in die Schallwand eingelassen. Eine schwarze Samtmaske deckt die Montageringe ab. Während der Hochtöner konventionell an die Front angeschraubt ist, wird das Bass/Mittenchassis durch den Zug einer mit dem Magneten verschraubten und aus der Rückwand herausgeführten Gewindestange fixiert. Wer es gewöhnt ist, routinemäßig Chassisschrauben nachzuziehen, sei gewarnt: Der Anzugsdrehmoment spielt eine entscheidende klangliche Rolle, also Finger weg!
Beide zugekauften Chassis werden bei JMR einer Sonderbehandlung unterzogen. Die Hochtonkalotte erhält eine kurze hornförmige Schallführung, wobei Reynaud betont, wie wichtig das Material, eine eher weiche Kunststoffmischung, für das Endergebnis sei. Beim Tieftöner geht es der Membran an den Kragen. Deren Oberfläche wird angeschliffen, es folgt eine Beschichtung mit einem graphithaltigen und damit elektrisch schwach leitfähigen Lack. An dieser Stelle höre ich zum ersten Mal von statischen Aufladungen bei Lautsprechermembranen und deren klanglichen Auswirkungen. Das übersteigt meine Physikkompetenz, besäße ich allerdings eine dieser coolen Antistatik-Pistolen („Zerostat“), würde ich damit der Forschung zuliebe umgehend auf meine Lautsprecher losgehen …
Die mit 12 dB Flankensteilheit filternde Frequenzweiche ist der eigentliche Namensgeber der Bliss Silver. Hier kommen im Gegensatz zur Standard-Bliss Silberfolienkondensatoren zum Einsatz, in der Innenverkabelung stecken zudem versilberte Kupferleiter. Außer dem Edelmetallanteil soll der Aufwand bei der Komponentenauswahl, das „matching“, die beiden Bliss-Versionen voneinander unterscheiden. Ein Paar der extrem eng tolerierten Silver soll dem Ideal von zwei absolut identischen Stereo-Schallquellen so nahe wie möglich kommen.
Interessieren üblicherweise an Lautsprecherständern nur die Aspekte Gewicht und Stabilität, so verdient der patentierte JMR Magic Stand doch eine deutlich detailliertere Vorstellung. Erstens besteht er vollständig aus Holz. Zweitens will er vom Besitzer zusammengebaut werden. Drittens fehlen ihm, wie erwähnt, die gewohnten Spike-Gewinde. Und viertens hat man ihm eine aktive akustische Mitwirkung verordnet. In der Standsäule stecken nämlich zwei auf unterschiedliche Frequenzen (100 Hz und 400 Hz) abgestimmte Helmholtz-Resonatoren. Vom darauf platzierten Lautsprecher angeregt, sollen sie die sich ausbildenden Längsresonanzen gezielt beeinflussen, die bei konventionellen Ständern für Frequenzgangabweichungen sorgen.
Dass der JMR Magic Stand wirklich magisch ist, muss er im Duell gegen meinen Linn Kan-Stand beweisen. Der ist das genaue Gegenteil des Franzosen: Spikes oben, Spikes unten, dazwischen nicht befüllbare, ergo durchaus resonanzanfällige Vierkant-Stahlrohre. Die oberen Spikes habe ich aus Mitleid mit der feinen Anthrazitmetallic-Lackierung der Bliss Silver gegen Senkkopfschrauben und vier winzige Kügelchen des genialen Klebegummis Blu-Tack getauscht. Und siehe da: Zugewinne im Bereich Spritzigkeit und Konturenschärfe gehen einher mit einem Verlust der zuvor beeindruckenden Homogenität und einer spürbaren emotionalen Abkühlung des Geschehens. Fazit: Der Magic Stand ist tatsächlich als integraler Bestandteil der Klangabstimmung zu sehen und bleibt.
Ich hab‘s schon verraten: Die JMR Bliss nimmt in der Disziplin Homogenität, also der bruchlosen Spielweise „wie aus einem Guss“, eine Ausnahmestellung ein. Wann habe ich das letzte Mal so wenig, nein, überhaupt nicht an Höhen, Mitten und Bässe gedacht wie in den mit den Französinnen verbrachten Wochen? Es muss lange her sein.
Den ersten Eindruck lieferten die Bliss Silver am Silbatone-Röhrenvollverstärker (zweimal acht Watt aus 300B-Trioden) ab. Bei der Kombination lauten die Vorgaben: Klassik, Jazz oder feinen Pop auflegen, gerne im Kammerformat, statt dem Livekonzert-Wumms das intime tête-à-tête suchen. Dazu die Boxen auseinander und selbst nah ran, ein nahezu gleichwinkliges Dreieck ist nicht falsch.
So entsteht ein fließendes Klangbild voller Wärme, eine regelrechte Antithese zu allem, was sich „analytisch“ schimpft, stattdessen eine mustergültige Demonstration dessen, was „Integration“ im audiophilen Sinne bedeuten soll. Die Bliss Silver versteht es auf bemerkenswerte Weise, Zusammenhänge, musikalische Phrasen zu bewahren und unmittelbar verständlich zu machen. Der Ton ist singend und schwingend ohne jegliche technische Beimischung. Kurz: Diesen Französinnen hört man gerne, und gerne lange, zu. Und ich bin schon mal ziemlich beeindruckt.
An meine Transistorelektronik aus dem Hause Naim angeschlossen, gesellt sich der berühmte, immer wieder verblüffende Naim-Groove dazu. Jetzt dürfen wir es auch gerne krachen lassen, und die JMRs, die eben noch so betörend für Late-Night-Beschallung gesorgt hatten, lassen durchblicken, dass sie keineswegs in die Leisespieler-Schublade einsortiert sein wollen. In der Reaktion auf unterschiedliche Hörpegel trennt sich die Spreu vom Weizen, das gilt für jede Audio-Komponente. Absolut verboten: Zusammenbruch im Flüstermodus einerseits, und Zerfallserscheinungen beim Aufdrehen andererseits. Die Bliss Silver sind durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Der fürs Format beeindruckende, trotz (oder wegen?) der komplexen Schallführung perfekt eingebundene Bass stellt sich jeder Herausforderung, die Höhen fangen nie an zu giften – speziell für Letzteres wage ich ganz unwissenschaftlich die guten Silberbauteile der Weiche verantwortlich zu machen, nach meinen Erfahrungen mit dem stark silberhaltigen Silbatone-Amp, der eine sehr ähnliche Klangsignatur aufweist.
Die JMR Bliss Silver machen es einem nicht leicht, sie nüchtern gemäß HiFi-Pflichtenbuch abzuarbeiten. Ich könnte seitenweise darüber schwärmen, wie viel Unbekanntes ich mit ihnen in oft gehörten Aufnahmen entdeckt habe, wie sie den Hörer quasi an der Hand nehmen und ihn an die innere Struktur egal welches Musikstils heranführen, was für verführerische Erzählerinnen sie sind.
Was sie auf keinen Fall sind: Effekthascher, Detailblender, Möchtegerne. Vielmehr sind sie hochfeine Schallwandler für alle Lebenslagen, tiefenentspannt, bescheiden im Auftreten, beeindruckend eher auf den zweiten denn auf den ersten Blick. Vielleicht Knotenlöser für erfahrene Hörer, die des vordergründigen Gefitzels Leid sind und sich sehnlichst ein Ankommen wünschen. Um das wenigstens mit einem nüchternen Satz zu untermauern: Das Rundstrahlverhalten zum Beispiel, auch die Phasenstabilität unter verschiedenen Hörwinkeln, sind beide blitzblank, von den oftmals erlebten Klang-„Verschiebungen“ beim Hin- und Herbewegen vor den Lautsprechern keine Spur. Schlicht und ergreifend saubere Ingenieursarbeit.
Ja, ich würde die JMR Bliss Silver Freunden empfehlen. Guten Freunden, die keine HiFi-Fans sind, die einfach nur gerne und viel Musik hören wollen, ohne vom Exhibitionismus der beteiligten Gerätschaften ermüdet zu werden.
Was heißt gleich wieder „reine Freude“ auf englisch? Ach ja: Pure bliss. Wie passend.
JMR Bliss Silver
2-Wege-Kompaktlautsprecher, Transmissionline
Wirkungsgrad: 90 dB
Nennimpedanz: 4 Ohm
Bestückung: Tieftöner (175 mm) mit Kompositmembran aus Papier und Carbon mit Aquaplast-Kern und Phase-Plug, Hochtöner (28 mm) Seidenkalotte mit doppeltem Neodym-Magnetsystem
Anschluss: Single-Wiring
Ausführungen: Anthrazit, Kirsche
Maße (B/H/T): 22/43/27 cm
Gewicht: 10 kg
Garantiezeit: 2 Jahre