Jehan Alain
Komplexe Chromatik und kauzige Späße: Bei Jehan Alain wird die Orgel zum Abenteurer-Instrument. Kein anderer Komponist hat die Mystik der französischen Kathedralen-Orgel so fantasievoll in die Pluralität des 20. Jahrhunderts geholt.
Moderne Orgelmusik aus Frankreich – da denkt man schnell an Olivier Messiaen. Drei Jahre jünger als er war sein Freund Jehan Alain (1911–1940), der teils dieselben Lehrer hatte (Caussade, Dukas, Dupré). Alains Vater war Organist und Orgelbauer, verfügte im eigenen Haus über ein viermanualiges Instrument und gab seinem Sohn den ersten Unterricht. Von 1927 an studierte Jehan (mehrfach preisgekrönt) am Pariser Konservatorium, ab 1935 war er zudem fester Organist in Kirchen und Synagogen – beide Aktivitäten endeten erst 1939 mit seiner Einberufung zum Militär. Während sein Freund Messiaen 1940 in deutsche Gefangenschaft geriet und überlebte, hat Alain im Krieg sein Leben gelassen. Er wurde nur 29 Jahre alt, hinterließ eine junge Ehefrau und drei kleine Kinder.
Jehan Alain schrieb rund 140 Kompositionen, den größten Teil davon für die Orgel. Manche seiner Orgelstücke sind aus Studienaufgaben entstanden (Variation sur Lucis Creator, Fugue en mode de fa, Chant donné u. a.), andere aus Improvisationen bzw. Meditationen für den Gottesdienst (Postlude pour l’office de Complies, Choral cistercien, De Julius Lemaitre u. a.). Doch er griff auch exotische Einflüsse auf (Nordafrika, Indien) oder erfand eigene Tonskalen. Kurzum: Alain war ein fröhlicher Eklektizist, der in seiner Orgelmusik spätromantische Schwere mit grell-moderner Dissonanz mischte, sich auch bei Gregorianik, Fugentechnik, Impressionismus oder Jazzrhythmen bediente. Einerseits beschäftigten ihn religiöse Fragen zu Furcht und Erlösung, anderseits galt er als „unverbesserlicher Spaßvogel“, der Tragisches mit Komischem mischen konnte. Ganz verschiedene Stilistiken packte er in Variationenfolgen oder hängte sie fast montageartig aneinander. Das machte ihn zu einem der originellsten und kurzweiligsten Orgelkomponisten überhaupt.
Seine Schwester Marie-Claire (1926–2013) – eine bedeutende Organistin mit Hunderten von Plattenaufnahmen – war die beste Kennerin von Alains Werk. Für ihre Fast-Gesamtaufnahme Works For Organ (Erato, 2001) wählte sie möglichst dieselben Orgeln, an denen ihr Bruder für seine Stücke die Registerwahl traf.
Mit Begeisterung hört man Alains blühende Melodik und ekstatische Rhythmik, die mächtige Polyphonie, die frechen Dissonanzen und bizarren Klangfarben. Die halb ernsten, halb lustigen Litanies (1937), die das Album eröffnen, gelten als sein populärstes Werk. In der dreisätzigen, rund 18-minütigen Suite pour orgue (1935) und im frei-atonalen Prélude et Fugue (1935) zeigt sich Alain besonders ambitioniert und avantgardistisch. Vielleicht sein Meisterstück sind die Trois Danses (1939), die er erst in seiner Armeezeit beendet hat. Von seinen übrigen Orgelwerken erreicht kaum eines die Fünf-Minuten-Grenze – viele sind kaum zwei Minuten lang. Alain war ein Meister der kleinen Form und des originellen Einfalls.
Der elsässische Organist Paul Reber (geb. 1961) hat für sein Album Reber & Alain (IFO, 2011) die beiden Orgelfantasien gewählt, die Alain 1933 bzw. 1936 komponiert hat.
Die erste – Messiaen gewidmet und von ihm inspiriert – beginnt mit einer dramatisch-massiven Angstvision, auf die dann ein surrealer Walzer antwortet. (Ein eigenwilliges Gedicht von Omar Khayyam war die Vorlage.) Die zweite Fantasie mischt Gregorianik mit hebräischer und nordafrikanischer Folklore – ein bitonales Reifewerk in strenger Form. Zwischen die beiden Fantasien packt Reber vier hörenswerte eigene Orgelkompositionen, die unverkennbar Alain vieles verdanken.
Häufig hat Jehan Alain seine Orgelwerke zuerst am Klavier konzipiert – seine Großmutter soll eine grandiose Pianistin gewesen sein. Die Stücke, die er speziell fürs Klavier schrieb, bilden nach den Orgelstücken den zweitgrößten „Block“ im Gesamtwerk, sind aber durchweg Miniaturen. Kaum eine der 26 Kompositionen oder Variationen auf dem Album L’Oeuvre de Piano (Musicom, 2006) erreicht die Drei-Minuten-Marke.
Ohne die Klangvielfalt der Orgel wirkt Alains Musik abstrakter und experimenteller – religiöse Bezüge sind hier selten. Stattdessen überwiegt ein technischer Forschungsgeist, die Neugierde darauf, was sich mit Rhythmen, beschränkten Tonvorräten oder speziellen Spieltechniken anstellen lässt. Kleine Variationszyklen sind Mythologies japonaises (über eine asiatische Melodie als Choral) und Thème varié (über ein riskant harmonisiertes Andante-Motiv). Es sind fein gesponnene Schmuckstücke mit funkelnder Frische und einer sanften Magie.